Müller, Melissa / Reinhard Piechocki
Alice Herz-Sommer — “Ein Garten Eden inmitten der Hölle”
Ein Jahrhundertleben
Ein Buch sachlich zu rezensieren, welches beim Lesen und noch darüber hinaus überaus stark berührt und bewegt hat, ist keine leichte Aufgabe. Tief beeindruckt von der Persönlichkeit der Autorin und angeregt zum Überdenken des eigenen Lebens liegt das Buch zum Weitergeben bereit. Ja, dies Buch sollten noch viele Menschen lesen, nicht nur, aber besonders die Musikinteressierten. Alice Herz-Sommer hat ihr Leben erzählt und es wurde von Melissa Müller und Reinhard Piechocki in wohlformulierter Sprache notiert.
Woher hat diese Frau ihren ungebrochenen Lebensmut? Wo liegt ihre Kraftquelle, aus der sie mit unversiegbarem Optimismus schöpft, sogar angesichts lebensbedrohender Situationen? Wie schafft sie es immer wieder, sich selbst und anderen Mut zuzusprechen, neu zu beginnen, Altes hinter sich zu lassen und das, wo sie wie so viele Unschuldige Unerträgliches ertragen musste?
Alice Herz-Sommer ist Jüdin. 1903 kam sie in Prag zur Welt, wo sie ihre Kindheit und Jugend inmitten des aufgeklärten Bürgertums verbrachte. Die Familie stand in Kontakt mit Schriftstellern und Wissenschaftlern, darunter auch Sigmund Freud, Max Brod, Franz Werfel und Franz Kafka, an den sich Alice Herz-Sommer bis heute gut erinnert. Schon als Fünfjährige bekam sie Klavierunterricht und schon mit 16 Jahren war sie Mitglied der Deutschen Musikakademie in Prag. Bald begann die unaufhaltsame Karriere einer überaus begabten Pianistin.
Die Nationalsozialisten beendeten die Karriere mit Auftritts- und Unterrichtsverbot. Beinahe wäre es den Nationalsozialisten gelungen, Herz-Sommer seelisch zu zerstören. Als ihre damals 72 Jahre alte und kranke Mutter deportiert wurde, wurde die Pianistin depressiv, konnte nicht mehr musizieren. Aber eine innere Stimme kam mir in den Sinn, an die ich mich auch nach 80 Jahren noch genau erinnere, an welcher Stelle in Prag dies geschah. Diese Stimme sagte mir: Jetzt kannst nur du dir helfen, nicht der Mann, nicht der Doktor, nicht das Kind. Und im selben Moment wusste ich: ich muss die 24 Etüden von Frederic Chopin spielen.
Ich rannte nach Haus, und von dem Moment an habe ich Stunden um Stunden und Stunden geübt, bis zu unserer Deportierung.
In Theresienstadt rettete ihr die Musik das Leben. Ihr Mann Leopold Sommer kam 1945 in Dachau um, aber Alice Herz-Sommer und ihr Sohn Raphael, 1937 geboren, überlebten Theresienstadt, weil sie Konzerte gab, u.a. mit den Chopin-Etüden. Jede einzelne der Etüden wird von den Autoren Müller und Piechocki klug und für den Laien durchaus verständlich vorgestellt und in bewegende Zusammenhänge mit Theresienstädter Bewohnern und Begebenheiten gebracht.
Nach der Befreiung lebte Herz-Sommer kurz in Tschechien, dann 37 Jahre lang in Israel, um dann 1986, im Alter von 83 Jahren, zu ihrem Sohn und seiner Familie nach London zu ziehen, wo sie heute noch lebt.
Die Nationalsozialisten haben ihr viele Familienangehörige und Freunde getötet, ein Unfall riss ihren Sohn 2001 aus ihrem Leben, aber ihre Lebensfreude und ihren Lebensmut konnten ihr nicht genommen werden. Ein sehr wichtiger Vorsatz, den sie auch einlösen konnte, war der, dass ihr Sohn keinen Hass gegen Menschen oder die Deutschen empfinden sollte. Dies war sicher auch ein wesentlicher Grund, warum sie so lange geschwiegen hat. Vielmehr kann sie bis heute mit ihrem sympathischen osteuropäischen Akzent sagen: Wir sind umgeben von Wundern, oder: Musik ist ein Zauber, oder: Es hängt von mir ab, ob das Leben schön ist oder nicht! Und solche Sätze regen doch wohl jeden Leser zum Nachdenken an, oder?
Viola Karl