Strawinsky, Igor
Agon. Ballet for Twelve Dancers
Aufnahme des Südwestfunks 1957
Musikliebhaber glauben, der größte lebende Dirigent sei Toscanini. Musiker wissen, dass es Hans Rosbaud ist. Dieses sagte Francis Poulenc im Jahr 1954, und es kann nicht schaden, sich gerade heute dieser Worte zu erinnern. Der 1962 verstorbene österreichische Dirigent ist wahrscheinlich leider nur noch Expertenzirkeln wirklich ein Begriff was daran liegen mag, dass er in der Nachkriegszeit vornehmlich für den Rundfunk aufnahm und an einer Karriere als Schallplattendirigent nicht interessiert war. Oder vielleicht interessierte man sich an den entscheidenden Stellen auch nicht für ihn?
Wie dem auch sei, welch überragende Rolle Rosbaud für die Vermittlung zeitgenössischer Musik spielte, wird auf der vorliegenden CD wieder einmal deutlich: Strawinskys Agon, seine letzte Ballettpartitur, aufgenommen 1957, im Jahr der Uraufführung, von Wergo 1964 als LP veröffentlicht und nun, im Rahmen der Studio Reihe des Labels, erstmalig als CD erhältlich. Es besteht nun also die Gelegenheit, ein Schlüsselwerk der zeitgenössischen Musik in einer Interpretation kennen zu lernen, die entstand, noch bevor das Opus seinen Platz im Orchester- und Ballettrepertoire fand. Ganz abgesehen davon, dass die Klangqualität für das Aufnahmedatum äußerst zufriedenstellend, wenn auch nicht perfekt ausgefallen ist, vermögen Rosbaud und das Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden- Baden auf rein musikalischer Ebene voll und ganz zu überzeugen. Das betrifft die genuin tänzerischen Qualitäten der Musik ebenso wie die äußerst diffizilen Kombinationen und Austarierungen der einzelnen Klangfarben. Und schließlich gelingt es Rosbaud auf imponierende Weise, die Reise durch die Jahrhunderte der Musikgeschichte, die Strawinsky in seinem Agon unternimmt von der Renaissance bis zur Zwölftontechnik und wieder zurück , sinnfällig und bildhaft nachzuzeichnen. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass es bereits mehrere qualitätvolle Einspielungen der Partitur gibt, beispielsweise von Michael Tilson Thomas (RCA) und Michael Gielen (Hänssler), und diese haben gegenüber der Wergo-CD den Vorteil, dass sie noch andere Werke Strawinskys enthalten. Bei Wergo muss man sich mit Agon begnügen, und das Stück dauert noch nicht einmal dreißig Minuten!
Dennoch besitzt die Einspielung ein Alleinstellungsmerkmal, das es in sich hat: den 35-seitigen (!) Aufsatz Helmut Kirchmeyers, der ungekürzt von der LP-Ausgabe übernommen wurde. In diesem Essay erfährt man wirklich alles, was man über Agon wissen muss: Entstehungsgeschichte, kompositorische Besonderheiten und vor allem einen Überblick über die von Strawinsky im Agon benutzten Tanzformen und ihre Historie. Undenkbar, dass sich heute ein Tonträger-Label eine derartige editorische Mühe machen würde. Die CD-Edition überzeugt also als historisches Dokument sowohl auf musikalischer wie auf literarischer Ebene. Angesichts dessen lässt sich die magere Spieldauer verschmerzen.
Thomas Schulz