Lachenmann, Helmut
Accanto/Consolation I/Kontrakadenz
Die Wiederveröffentlichung dieser zuerst 1985 erschienenen CD ist gleich ein zweifaches Geschenk: Zum einen ehrt sie den Geburtstag des Komponisten mit großartig eingespielten Aufnahmen, zum anderen ist sie eine grandiose Gabe für alle Freunde der Neuen Musik. Doch ist dies keine CD zum entspannten Durchhören. Auch heute noch geht diese Musik aufs Ganze und fordert die volle Aufmerksamkeit des Hörers, der dafür aber reichlich mit musikalischen Eindrücken und Einblicken belohnt wird.
Accanto (1975/76) steigert sich von einzelnen, wie zufällig gestreut wirkenden Tönen über viele Entwicklungen zum kollektiven Höhepunkt. Die deutliche formale Anlage, die Vielschichtigkeit und der Ideenreichtum, dezent versteckt im pseudofreien Treiben, und der elegante Humor, der sich in der einen oder anderen Passage zeigt, werden in dieser Einspielung von 1977 zur homogenen Delikatesse. Klarinettist Eduard Brunner und das Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken (unter Heinz Zender) spielen mit fast allen erdenklichen Klangmöglichkeiten und Effekten, treffen die Musik auf den Punkt und verblüffen immer wieder mit ein paar konventionell gespielten Tönen. Die bringen, da sie hier schlicht rar sind, scheinbar eine ganz neue Klangerfahrung. In der Mitte irgendwann ertönen dann die wenigen original belassenen Takte aus Mozarts Klarinettenkonzert: neu und sehr rein klingt es, und Brunner jubelt es nur so aus dem Instrument. Gegen Ende tropft die Musik wieder weg, löst sich auf und nur ein Schatten von Klängen bleibt übrig.
Consolation I (1967) für zwölf Stimmen (schola cantorum stuttgart) und vier Schlagzeuger zeigt sich von Beginn an bewegt, fast hektisch. Tolle solistische Sänger zaubern hier Geräusche und Klänge, die auch heute noch unter die Haut gehen. Die Schlagzeuge sorgen mit vielen verschiedenen Instrumenten für noch weitere Klangfarben. So entsteht ein wohlgeordnetes Wirrwarr, das jedoch ohne sehr fundiertes technisches Können unmöglich auszuführen ist. Unter allem liegt ein Text Ernst Tollers, entfremdet und zerstückelt, hochdramatisch und tief gehend auch als kryptisch unverständliche Sprachbrocken.
Ein Spiel mit Klängen ist auch Kontrakadenz (1970/71) für großes Orchester. Ein paar Mal blitzt auch hier ganz der konventionelle sinfonische Wohlklang durch (dem Radio-Sinfonierorchester Stuttgart des SWR unter Michael Gielen gelingen diese klitzekleinen Passagen sehr schön) und so schafft Lachenmann wieder harte Kontraste: Genau hinhören und hinter die Welt der schönen Töne blicken soll der Hörer dadurch. Eine Sprecherstimme kündigt, wieder fragmentarisch, das Werk an, und so verdeutlicht sich ein Eindruck von Zufälligkeit, vom launigen Spiel mit dem Drehkopf eines analogen Radiogeräts um dann wieder in klar strukturierte, ziemlich anstrengende Unklanglichkeit zu münden. Genial ausbalanciert.
Heike Eickhoff