Komma, Karl Michael
Abendphantasie / Metamorphosen
Aus dem Komma wird ein Rufzeichen werden diese Prophetie galt dem jungen Komponisten Karl Michael Komma, der sich zeitweilig mehr auf die Seite der Musikforschung schlug, die man heute eher mit seinem Namen verbindet. Am Heiligabend 1913 in dem böhmischen Städtchen Asch geboren eben dem Ort, den Schumann in seinem Klavierzyklus Carnaval als Anagramm zitiert (Geburtsort seiner ersten Verlobten Ernestine von Fricken) , studierte Komma Musikwissenschaft in Prag und Heidelberg (Promotion bei Heinrich Besseler), wo er auch Kompositionsstudien trieb. Nach Krieg und Vertreibung wurde er Dozent, später Professor für Musikgeschichte, Tonsatz und Komposition an der Musikhochschule Stuttgart. Als Musikhistoriker blieb eines seiner Hauptthemen das böhmische Musikantentum. Daneben beschäftigten ihn das Glogauer Liederbuch, Mozart, Schubert, Brahms und Dvorák. Als Herausgeber widmete er sich Gruppenkonzerten der Bach-Zeit, Beethovens Klaviersonate As-Dur op. 110 sowie Liedern und Gesängen nach Dichtungen von Friedrich Hölderlin. Hölderlin blieb auch eine Konstante seines Komponierens, das sich wesentlich an Paul Hindemith und Bela Bartók orientierte.
1954 nahm Komma seinen Wohnsitz in Reutlingen. Dort gründete er u.a. die Reihe Musica nova, förderte die kommunale Musikschule und bewegte das Kuratorium des Schwäbischen Symphonieorchesters, heute Württembergische Philharmonie Reutlingen. Klar, dass zum 80. und 90. (!) Geburtstag je ein neues Werk für das einheimische Orchester fällig war: 1993 eine Abendphantasie für großes Orchester, 2003 ein Konzert für Orchester mit dem Haupttitel Metamorphosen, der an das gleichnamige Spätwerk von Richard Strauss erinnert.
Hölderlin-Kenner vermuten richtig: Die Abendphantasie bezieht sich auf das Gedicht, das man früher für die Schule (mithin fürs Leben) auswendig lernte. Der Friedensruhe der Rahmenstrophen entsprechend beginnt und endet die Orchester-Fantasie mit einem Andante tranquillo. Doch hat Komma nicht den tonmalerischen Ehrgeiz eines Richard Strauss. Komma ist kein Illustrator. Eher gibt er sich dem Strom der Anmutungen hin, die das lyrische Ich bewegen. Der Hörer folgt den musikalischen Assoziationen, die Hölderlins Verse in dem Komponisten aufsteigen lassen. Dazu gehört die Friedfertigkeit der Abendstunde, bevor im Wanderer die Unruhe der mittleren Strophen hervorbricht: vom geschäftigen Lärm des Markts und bis zum Stachel in der Brust: Wohin denn ich? Ein Ausruf, den man in der Musik deutlich zu vernehmen glaubt ebenso wie das Wechselspiel der Jamben und Trochäen, den stellenweise stockenden Rhythmus der Daktylen.
Kommas Meisterschaft im Umgang mit dem Orchester und seinem Farbenreservoir zeigt sich nicht nur in den Stimmungsbildern und Gefühlsepisoden der Abendphantasie, sondern besonders auch in den fünfteiligen Metamorphosen, deren Tempo und Charakter sich von Satz zu Satz ändern bei vielfältigem Wechsel von Tutti und Sologruppen. Der Komponist selbst machte darauf aufmerksam, das Klangfarbenspiel sei ihm oft wichtiger gewesen als thematische Prägungen. Was ein dialektisches Spiel mit den ästhetischen Grundprinzipien Alles aus einem und Einheit in der Vielfalt ja nicht ausschließt.
Übrigens klingt die Württembergische Philharmonie ganz ausgezeichnet. Mit wie viel Liebe, Respekt und Könnerschaft sie sich 1993 unter Roberto Paternostro, 2003 unter Norichika Iimori des böhmischen Musikanten, gewitzten Kontrapunktikers, Klangerzählers und Farbenkünstlers annimmt! Der wiederum verschaffte dem Orchester eine wunderbare Gelegenheit, ein gewinnendes Selbstporträt abzuliefern.
Lutz Lesle