Williams, Ralph Vaughan

A Sea Symphony

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Querstand/MDR Edition 19 VKJK 0731
erschienen in: das Orchester 10/2008 , Seite 67

Nachdem er als junger Komponist vorwiegend relativ kleinformatige Kammermusik-, Orchester- und Chorwerke geschrieben hatte, wandte sich Ralph Vaughan Williams mit Anfang dreißig einem Projekt zu, das nur als hochgradig ehrgeizig bezeichnet werden kann: einer umfangreichen Chorsinfonie nach Gedichten von Walt Whitman. Vaughan Williams bediente sich dabei Whitmans Gedichtsammlung Leaves of Grass. Dem Komponisten ging es bei seinem ersten genuin sinfonischen Werk weder um Tonmalerei noch um die Verherrlichung des Meeres, vielmehr diente ihm, ebenso wie Whitman, die Seereise als Metapher für menschlichen Forschergeist und die immerwährende Suche des Geistes nach dem tieferen Sinn der Existenz.
Formal erkundete Vaughan Williams in der Sea Symphony – so nannte er das Werk nach längerem Überlegen – Neuland: Zwar existierten schon mehrere Chorsinfonien – von Beethoven, Mendelssohn, Mahler –, aber noch keine, in der Chor und Solisten in allen vier Sätzen gleichermaßen gefordert sind. Der Komponist selbst dirigierte die Uraufführung an seinem 38. Geburtstag, dem 12. Oktober 1910, beim Leeds Festival.
Wenn auch die Sea Symphony Vaughan Williams’ erste Sinfonie darstellt: Sein erstes Meisterwerk ist sie noch nicht, zumindest nicht ganz. Die Verfeinerung der Instrumentierung, wie Vaughan Williams sie später, ab der Tallis Fantasia, erreichen sollte, zeigt sich hier noch nicht immer – viele Passagen, insbesondere im Kopfsatz, wirken orchestral etwas dickfleischig. Und auch auf harmonischer bzw. thematischer Ebene präsentiert sich der Komponist noch auf der Suche nach der eigenen Identität. Doch es gibt viele wunderschöne Passagen: Der gesamte zweite (langsame) Satz ist reinster Vaughan Williams, und die letzten Takte des Finales weisen bereits auf die sechste Sinfonie voraus.
Howard Arman entstammt direkt der britischen Chortradition, hat mit vielen international renommierten Chören zusammengearbeitet und ist seit 1998 Künstlerischer Leiter des MDR Rundfunkchors. Die Sea Symphony liegt ihm nach eigener Aussage besonders am Herzen, und die vorliegende Einspielung, die am 4. Februar 2007 im Leipziger Gewandhaus live mitgeschnitten wurde, beeindruckt in vielerlei Hinsicht. Es mag nicht überraschen, dass es vor allem die Leistung des Chors ist, die höchstes Lob verdient: Nicht nur Stimmstärke (und die braucht es bei diesem groß besetzten Werk!), sondern auch klangfarbliche Differenzierung und eine unbedingte Identifikation mit Textgehalt und musikalischer Dramaturgie zählen zu den Stärken des Ensembles. Anständig, wenn auch nicht überragend die Solisten, während man dem Orchester gelegentlich anmerkt, dass es mit dieser Partitur – wie mit britischer Musik überhaupt? – nicht allzu vertraut zu sein scheint; allzu neutral wirkt auf diesem Sektor gelegentlich die Realisierung der Partitur. Dieses kleine Manko wird allerdings durch das brillante SACD-Klangbild wettgemacht. Das Booklet schlussendlich wartet mit einem tiefgründigen Essay von Arman persönlich sowie mit zweisprachig abgedruckten Gesangstexten auf.
Thomas Schulz

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