Werke von Carl Friedrich Christian Fasch, Orazio Benevoli und Felix Mendelssohn Bartholdy

A Quattro Cori

Music for 16 Voices

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Es-Dur ES 2049
erschienen in: das Orchester 07-08/2014 , Seite 78

Eine raumgreifende Idee bewegte den NDR Chor im Vorjahr: Drei 16-stimmige Werke für vier Chöre einzustudieren, die wirkungsgeschichtlich eng zusammenhängen. Denn ohne die (hier erstmals eingespielte) Missa in diluvio aquarum multarum (1661) des römischen Barockmeisters Orazio Benevoli hätte Carl Friedrich Christian Fasch seine Missa a 16 voci in quattro cori (1783) ebenso wenig geschaffen wie Felix Mendelssohn Bartholdy die 16-stimmige Motette Hora est (1828) ohne die Kenntnis beider.
Um die Missa des Italieners wie auch seine eigene Messe aufführen zu können, rief der preußische Hofkapellmeister Fasch in Berlin eigens ein Vokalensemble ins Leben, in dem nicht mehr Knaben, sondern Frauen die Sopran- und Altpartien sangen. 1793 gab sich dieser Chor, der allmählich auf 350 Stimmen anwuchs, den Namen „Sing-Akademie zu Berlin“. Die beiden Messen also haben die Berliner Singakademie hervorgebracht. Und das „historische Bewusstsein“ ihrer Gründerväter geschärft.
Dank der berauschenden Raumwirkung, die von den „Cori spezzati“ der Gabrielis im Markusdom zu Venedig ausging, verbreitete sich die „Mehrchörigkeit“ wie ein Lauffeuer durch Europa. Vermittelt durch Giovanni Perluigi da Palestrina, fand sie ihren monumentalen Widerhall in der 16-stimmigen Messe des Vatikan-Kapellmeisters Benevoli. Friedrich Reichardt, der schriftstellernde Berliner Hofkapellmeister, entdeckte sie 1783 auf seiner Italienreise und nahm sie mit nach Berlin. Sie versetzte seinen Amtsvorgänger C.F.C. Fasch in solche Begeisterung, dass er zur Feder griff und ein prächtiges Gegenstück schuf: eine knapp halbstündige Missa brevis, die ihn als Kenner Bachs und Haydns ausweist. Und als Kontrapunktiker von Gnaden, dem es gelang, die Fuge Cum sancto spiritu in allen 16 Stimmen durchzuführen!
Wer Benevolis 40-minütige Missa mit dem NDR Chor in Hamburg oder Wismar hörte und jetzt auf CD nacherlebt, begreift die Besessenheit des Berliner Akademiegründers. Der Titel dieser Messe entstammt dem 32. Psalm („Darum, wenn große Wasserfluten kommen, werden sie nicht an dieselben [die Heiligen] gelangen.“). Der lateinische Halbvers passt auf den Cantus firmus, der die Messe durchzieht. Ohrenfälliger sind zwei Fingerzeige auf die Leiden Christi: die Moll-Wendung und die chromatisch absteigende Schmerzfigur im Christe eleison und der Wechsel der Satzart im Credo, wo das Crucifixus dem Chor fast die Stimme verschlägt.
Die Bewunderung, die Reichardt und Fasch ergriff, sprang über auf dessen Amtsnachfolger Zelter, Goethes musikalischen Intimus, und dessen Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy. Wenige Monate, bevor er Bachs Matthäus-Passion reanimierte, schrieb Felix 1828 die 16-stimmige Motette Hora est, die er seiner Schwester Fanny zum 23. Geburtstag schenkte. Ein reifes Jünglingswerk, das dramatische Gestaltungsmomente seiner späteren Oratorien (Rollenverteilung) vorwegnimmt.
Conditio sine qua non eines schlanken, transparenten Chorklangs ist die intensive Arbeit an vielstimmiger A-cappella-Literatur. Diese zweite Einspielung des NDR Chors bei Es-Dur nach Venezia (vgl. das Orchester 2/2013, S. 68) zeigt Philipp Ahmann einmal mehr auf dem Königsweg.
Lutz Lesle