Gija Kancheli

A Little Daneliade/Valse Boston/18 Miniatures/Largo and Allegro

Hartmut Schill (Violine), Robert-Schumann-Philharmonie, Ltg. (und Klavier) Elisaveta Blumina

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Capriccio
erschienen in: das Orchester 6/2024 , Seite 71

Der wohl bedeutendste georgische Komponist des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts war Gija Kancheli (1935–2019), der 1991 nach Berlin übersiedelte und fünf Jahre später weiter nach Belgien. Diese neue CD enthält vier seiner besten Werke. Das beginnt mit einem gerade einmal gut neun Minuten dauernden Meisterwerk aus dem Jahr 2000, nämlich Eine kleine Daneliade für Violine, Klavier, Schlagwerk (ad lib.) und aktiv mitwirkendem Streichorchester (die betreffenden Ausführenden rufen, pfeifen und atmen stellenweise eifrig mit). Inspiriert wurde es durch einen nicht ganz ernst gemeinten georgischen Science-Fiction-Film des Regisseurs Gija Danelia von 1986, stilistisch wirkt es neofolkloristisch und surrealistisch, zeigt die für Kancheli typische Mischung aus wehmütiger Nostalgie und teils sarkastischem Humor.
Der Titel des folgenden Werks Valse Boston für Klavier und Streicher von 1996 lässt zunächst eher ein Gelegenheitswerk vermuten (gewidmet „meiner Frau, mit der ich nie getanzt habe“), doch handelt es sich um eine gut 22 Minuten dauernde, tiefsinnige Meditation. Darauf folgt die Hälfte jener 18 eher eingängigen, aber gleichfalls äußerst fokussiert komponierten Miniaturen für Violine und Klavier, deren Substanz Kancheli aus den über 100 Film- und Theatermusiken kristallisierte, die er selbst in der Sowjetzeit zwecks Broterwerb schrieb. Nach eigener Aussage wählte der Komponist dabei Themen aus, die er „besonders schätzte“, was auch dieses Werk wiederum sehr persönlich werden lässt.
Solche etwas leichtgewichtigeren Stücke brauchen wir auch als Erholung vor dem furiosen Finale, dem bereits 1963 entstandenen Largo und Allegro für Klavier, Streicher und Pauken, das schon den ganzen Kancheli enthält. Es ist faszinierend, hier hörend nachvollziehen zu können, wie sich ein 28 Jahre junger Komponist innerhalb eines einzigen Werks von dem damals in der Sowjetunion vorherrschenden, folkloristisch gefärbten Neoklassizismus emanzipierte und seine ganz eigene musikalische Stimme fand. Man kann die Besetzung auch „für Streicher, Klavier und Pauken“ nennen, denn das Tasteninstrument ist hier überwiegend ein Bestandteil des Kammerorchesters und tritt nur allmählich ein wenig solistisch hervor.
Die Robert-Schumann-Philharmonie hat modellhafte Einspielungen dieser Kompositionen vorgelegt. Sie trifft sehr gut jene klare Emotionalität, die sogar an den wenigen wütenden Höhepunkten nicht in falsches Pathos umschlägt. Das ist sicherlich auch ein Verdienst der Dirigentin und Pianistin Elisaveta Blumina. Als geradezu idealer Violinsolist für Kancheli erweist sich Hartmut Schill, seit 1997 Erster Konzertmeister des traditionsreichen Chemnitzer Klangkörpers.
Ingo Hoddick