Tippett, Michael
A Child of Our Time
Oratorium in drei Teilen für Soli, Chor und Orchester
Nach dem Tod Michael Tippetts im Jahr 1998 wurde es leider still um seine Musik. Wenn es aber ein Tippett-Werk gibt, das immer wieder aufgeführt und auch eingespielt wird, dann ist es das Oratorium A Child of Our Time das erste Hauptwerk des Komponisten, uraufgeführt 1944. In ihm finden sich zwei außermusikalische Themen, die Tippett als Mensch und Künstler sein Leben lang immer wieder beschäftigten.
Da ist zum einen sein konsequenter Pazifismus, der ihn während des Zweiten Weltkriegs als Wehrdienstverweigerer ins Gefängnis gehen ließ. Die Ablehnung von Krieg und Gewalt bestimmt auch den Inhalt von A Child of Our Time: Anstoß zur Komposition war das 1938 von dem jungen Juden Herschel Grynszpan verübte Attentat auf einen deutschen Beamten, das wiederum den Nazis die lang ersehnte Berechtigung für die verheerenden Judenpogrome gab, die unter dem euphemistischen Titel Kristallnacht unrühmliche Geschichte geschrieben haben. Grynszpan war für Tippett das archetypische Kind unserer Zeit, der Sündenbock, an dem sich das atavistische Aggressionspotenzial der Menschheit austobt.
Das Wort archetypisch verweist denn auch auf den zweiten Hintergrund, der im Oratorium thematisiert wird: die Psychologie Jungscher Prägung, der sich Tippett stets verpflichtet fühlte. Die zu erzielende Versöhnung der positiven und negativen Kräfte des Menschen ist letztlicher Endpunkt des Werks, der sich in den (frei übersetzten) Worten Erkenne ich Licht und Schatten in mir, werde ich endlich ein Ganzes sein subsummiert.
Der vorliegenden Neuerscheinung kann in mehrerer Hinsicht eine gewisse Authentizität attestiert werden. Zum einen entstand sie in Dresden; die Synagoge dieser Stadt wurde während der Pogrome 1938 völlig zerstört. Zum anderen steht mit Sir Colin Davis ein Dirigent am Pult, der sowohl zum Musikleben der Stadt Dresden als auch zur Musik des mit ihm befreundeten Tippett eine jahrzehntelange enge Beziehung hat. Bereits in den 1970er Jahren hat Davis A Child of Our Time eingespielt (Philips), und seitdem hat sich seine Sicht auf das Werk spürbar verändert: Die neue, 2003 entstandene Liveaufnahme ist vom Gestus her deutlich breiter, tragischer und betont auch stärker die Wahlverwandtschaft der Komposition zu den Oratorien Händels und den Passionen Bachs. Den Höhepunkten (etwa dem Spiritual Go Down Moses) eignet eine alttestamentarische Wucht, die der älteren Einspielung fehlt. Diese wiederum punktet mit größerer Durchhörbarkeit, einer insgesamt sehnigeren, schlankeren interpretatorischen Physiognomie sowie vor allem mit einem stärkeren Solistenquartett, darunter Jessye Norman und Janet Baker. Nicht nur können die Dresdner Solisten hier nur bedingt mithalten (neben Ute Selbig und Nora Gubisch überzeugt hier vor allem Robert Holl), auch findet sich mit dem Tenor Jerry Hadley eine echte Fehlbesetzung, der zuzuhören gelegentlich schmerzt.
Dennoch sei dieses Dokument aus der Reihe Edition Staatskapelle Dresden empfohlen, nicht zuletzt aufgrund des vorzüglichen Einführungstexts von Eberhard Steindorf. Ein Libretto findet sich im Beiheft allerdings nicht.
Thomas Schulz