Bach, Johann Sebastian

6 Suites a Violoncello Solo senza Basso

BWV 1007-1012, nach Interpretationen von Pablo Casals herausgegeben und kommentiert von Rudolf von Tobel

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Carus, Stuttgart 2004
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 77

Rudolf von Tobel war promovierter Musikwissenschaftler und gestandener Cellist des Berner Sinfonieorchesters, als er sich Mitte der 1930er Jahre entschloss, bei Pablo Casals nochmals in die Lehre zu gehen. Hieraus erwuchs eine Lebensaufgabe: Als Musiker, Publizist und Pädagoge vermittelte er fortan Instrumental- und Interpretationskunst des großen Katalanen. Bereits 1941 verfasste er ein Buch über Casals, in den 50er und 60er Jahren wirkte von Tobel als Assistent bei den legendären Zermatter Meisterkursen. Seit 1953 lehrte er zudem an der Musikhochschule Trossingen. In diesem Umfeld entwickelte sich ein cellistisches Ideal, das insbesondere im deutschen Sprachraum – tradiert durch von Tobels zahlreiche Schüler – beinahe den Stempel des Allgemeingültigen trug. So spielte man Cello!
1980 beabsichtigte von Tobel, eine Ausgabe der Bach’schen Solosuiten – basierend auf Protokollen und Erfahrungen aus vierzig Casals-Jahren – zu publizieren und damit die Interpretationen Casals’ in all ihrer Variabilität schriftlich festzuhalten. Es fand sich indes kein Verlag für das Vorhaben, erst mit dem vorliegenden Band konnte die seinerzeit projektierte Arbeit nun zu Ende gebracht werden. Herausgeberin Helga von Tobel merkt an: „Damals waren nur ,Urtext‘-Ausgaben gefragt, keine Interpretationsausgabe.“ In der Tat dürstete die damalige Cellistenwelt – hellhörig geworden durch erste Vorposten der historischen Aufführungspraxis – nach einer von Editoren-Willkür befreiten Ausgabe jener Werke, deren Autograf bekanntlich verloren ist. Dem wurde mittlerweile mit Ausgaben des Bärenreiter-Verlags und der Universal Edition Rechnung getragen, und so ist möglicherweise erst jetzt die Zeit reif für Rudolf von Tobel.
Die Ausgabe teilt sich in einen Noten- und einen Kommentarband. Lohnend, ja unverzichtbar ist es, sich zunächst dem Kommentarband zuzuwenden, denn wer den umgekehrten Weg wählt, könnte angesichts einer wahren Flut interpretierender Notentext-Ergänzungen vorschnell zu dem Schluss gelangen, dass ein so freizügiger Umgang mit den authentischen Quellen, wie Casals ihn aus dem Geiste seiner Zeit heraus praktizierte, heute nicht mehr aktuell ist. In von Tobels Text findet sich indes ein Hinweis, dessen Überzeugungskraft man sich kaum entziehen kann, selbst wenn im Konkreten nicht alle Beweisführungen ins Schwarze treffen: Casals, so von Tobel, habe „mit seinen Bach-Interpretationen intuitiv jene Gebote erfüllt, welche die Theoretiker des 18. Jahrhunderts für den ,guten Vortrag‘ aufgestellt haben“. Offenbar war es von Tobels Absicht, nicht nur Casals’ durchdachtes technisch-musikalisches Gesamtkonzept deutlich werden zu lassen, sondern nachzuweisen, dass dessen subjektiver Zugang zur Musik Bachs bisweilen ähnliche Ergebnisse zeitigte, wie aufführungspraktisches Wissen dies heute zu leisten vermag. So gelesen kann die Ausgabe auch heutigen Cellisten frappierende Aufschlüsse bieten. Überdies entsteht dank von Tobels detailgenauer Erinnerungen ein ungemein lebendiges Bild des großen Pablo Casals und seiner Kunst.
Gerhard Anders