Bach, Johann Sebastian

6 Suiten

für Violoncello

Rubrik: CDs
Verlag/Label: one world music OWM 03-2
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 86

Catalin Ilea spielt die Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach. Was hat er uns Neues zu sagen? Muss überhaupt, spielt man heute Bach, etwas Neues gesagt werden? In seinen „Gedanken über die Cellosuiten von J. S. Bach und die gegenwärtige Aufnahme“ schreibt Ilea: „Mit der vorliegenden Interpretation habe ich nichts anderes angestrebt, als eine für unsere Zeit gültige Version zu schaffen.“ Gibt es diese denn noch nicht? Wird es sie überhaupt geben können? Wie lange ist „unsere Zeit“? Fragen über Fragen.
Weiter steht im Booklet-Text: „Catalin Ilea hält sich – hundert Jahre nach der erneuten Uraufführung durch Casals – an die Interpretationsmodalitäten der Zeit Bachs. Es gibt keine richtigen oder falschen Interpretationen: es gibt nur bewusste und unbewusste.“ Was immer das auch sei, die „Interpretationsmodalitäten“ der Zeit Bachs, und ob es, eine „bewusste“ Interpretation vorausgesetzt, nicht doch ein Richtig oder Falsch geben kann, sei einmal dahingestellt. Lesen wir weiter in Ileas Gedanken: „Interpretation ist immer eine Brücke zwischen dem Original und der Wiedergabe. Auf der einen Seite die Arbeit des Komponisten […], auf der anderen ihre Wiedergabe, die nicht von Zeit, Geschmack und Kultur des Interpreten und des Publikums getrennt werden kann.“ Ist eigentlich eine Brücke identisch mit ihrem einen Pfeiler?
Catalin Ilea ist in Rumänien geboren, studierte in einem durch die Namen Klengel und Alexanian gekennzeichneten Umfeld in Bukarest und lebt seit 1977 in Deutschland. Heute ist er Professor an der UdK Berlin. Man hört der Aufnahme interessiert zu, Ilea zeigt ein klares persönliches Profil, er spielt sehr diffenrenziert, aber auch sehr eigen (bis hin zu Textveränderungen). Nur dominieren Geschmack und Kultur des Cellisten stärker als die angenommenen Interpretationsmodalitäten der Zeit Bachs. Dies zeigt sich an der Behandlung des Vibratos, an der Ausführung der Triller und anderer Verzierungen, am Einsatz des pizz. (Bourrée Es-Dur) sowie an der Intonation, die wenig „barocke“ Sensibilität verrät. Die 5. Suite ist ohne Scordatura aufgenommen, die 6. Suite auf einem 5-saitigen Instrument – leider erfährt man nicht, auf welchem.
Bachs Scordatura-Vorschrift zu ignorieren begründet Ilea damit, dass er „als Vorlage nicht die Celloversion, sondern diejenige für Laute“ gewählt hat, die ihm „harmonisch viel reicher und interessanter“ erscheint. Das Ergebnis ist quasi eine Mischung zwischen Lauten- und Cellofassung, die einige Harmonien aus jener in diese überträgt. Mir erschließt sich diese Argumentation allerdings nicht, da mangels Scordatura schon der 2. Akkord nicht mehr 4-stimmig ausführbar ist. Als weitere „Konzession“ an die Lautenfassung zupft er die Sarabande – ein „gewagtes Experiment“, wie Ilea gerne zugibt. Zumal er auf die „wunderbare Celloversion“ nicht verzichten mag und sie deshalb con arco noch einmal aufgenommen hat. Variatio delectat.
Die CD ist gut ausgestattet mit einem ausführlichen Text (dt./ engl.) von Jörg Siepermann, der sich – nicht ohne Sackgassen – auf Indiziensuche begibt betreffs Geschichte und Überlieferung der sechs Suiten, den oben erwähnten „Gedanken“ von Catalin Ilea und einer schönen Cover-Zeichnung von Luminita Tudor. Ilea spielt eine für ihn gültige Version, ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt. Leider ist diese Version nicht immer sauber (Prelude Es-Dur et al.), Finger- und Atemgeräusche sind deutlich wahrnehmbar. Trotz „,One point‘-Stereo-Mikrofonierung und ultimativer Balance zwischen Raumakustik und Mikrophonen“ (so das Label) ist das Klangbild sehr (zu) hallbetont. Dass ein dezidiert auf „Crossover“ spezialisiertes Label diese Aufnahme herausbringt, mag als mokantes Indiz gelten, wie fern uns Bach heute stehen kann.
Holger Best