Tailleferre, Germaine

4 Opéras Bouffes

pou voix solistes et orchestre de chambre, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Gerard Billaudot, Paris 1979
erschienen in: das Orchester 12/2015 , Seite 73

Germaine Tailleferre, einzige Frau unter der als „Group de six“ bekannt gewordenen Komponistenvereinigung der 1920er Jahre in Frankreich, kennt man höchstens dem Namen nach, ihre Werke werden selten aufgeführt. Und so hat sich der Herausgeber Gérard Billaudot sicher verdient gemacht, eine Neuauflage der in den 1950er Jahren entstandenen 4 Opéras Bouffes in einer sehr schön gestalteten Edition herauszugeben, um die Werke Tailleferres wieder bekannter und leichter zugänglich zu machen.
Der ausführliche Untertitel Petite histoire lyrique de l’art français, du style galant au style méchant, sur des livrets de Denise Centore erläutert die künstlerischen Intentionen der Autorin sehr genau: Zum einen handelt es sich um vier kurze, jeweils unter 20 Minuten dauernde Einakter in typisch neoklassizistischer Prägung, zum anderen ist dies ein historischer Kommentar zur Geschichte der französischen (und italienischen) Opernmusik, der jeweils konkret auf einen Komponisten Bezug nimmt: Rameau, Rossini, Gustave Charpentier (nicht Marc-Antoine) und Offenbach.
Die Besetzung des Orchesters ist im Wesentlichen immer dieselbe: einfach besetztes Holz, zwei Hörner, eine Trompete, Pauken und kleineres Schlagwerk, Harfe und Streicher – historisch gesehen indifferent. Einzige Ausnahme bildet der Einsatz eines Cembalos (für die Rameau-Adaptation) als typisches Generalbassinstrument der Barockzeit.
Die formale Disposition der 4 Opéras ist ebenfalls stets die gleiche: Einer kurzen Ouvertüre folgen Nummern – Arien, Duette oder Ensembles, zum Teil auch mit Chor – oder nummernartig angeordnete Szenen mit charakterisierenden Überschriften und einem Finale am Ende. Typisch französisch sind die eingestreuten Tänze wie die barocke Forlane oder die im 19. Jahrhundert öfter zu findende „Valse tyrolienne“. Angedeutete Rezitative oder gesprochene Dialoge verweisen auf die historischen Vorbilder der Opera seria bzw. Opéra comique. Die Libretti sind ähnlich bunt und reichen vom galanten Stil Ludwig XV. über die französische Restauration bis zum Realismus des späten 19. Jahrhunderts, Letzterer fernab aller historischen Einkleidung und Kulisse. Dort ist die Musik öfters dramatisch durchkomponiert und entfernt sich von der nummernhaften Anlage, die gleichwohl immer noch zu erkennen ist. Als Schlusspunkt operettenhaft schwungvoll und damit zu Offenbach passend gibt sich der Gestus der letzten der vier Opéra Bouffes.
Insgesamt wirken die Kurzopern wie handwerklich gut gemachte, aber harmlos naive Stilkopien, die heutigen historischen Ansprüchen des Tonsatzunterrichts nicht genügen. Tailleferre hatte zwar erfolgreich am Conservatoire in Paris studiert und war sogar eine zeitlang Ravels Schülerin. Die im Untertitel versprochene Bissigkeit (style méchant) aber löst Tailleferre nur selten ein. So erreicht ihre Musik nicht das Niveau der wohl zu Recht berühmteren Kollegen wie Poulenc und Milhaud, dafür fehlen ihr Qualitäten, die den Neoklassizismus erst zu einer ernsthaften Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts im „Dialog mit der Geschichte“ reifen ließen: Parodie, Verfremdung und Montage.
Kay Westermann