Auerbach, Lera
24 Präludien
für Violine und Klavier op. 46, Partitur und Stimme
Lera Auerbach, 1973 in Tscheljabinsk im Ural/Russland geboren, setzte sich auf einer Konzerttournee in die USA ab und studierte dann Klavier und Komposition an der Juilliard School. Neben ihrer regen Konzerttätigkeit wirkt sie heute als Schriftstellerin und kann ein umfangreiches kompositorisches uvre vorweisen, das laut Webseite (www. leraauerbach.com) bereits über siebzig Opuszahlen umfasst und von Orchesterwerken und Solokonzerten über Klavierwerke und Klavierkammermusik bis zu Liedern und Chorwerken reicht. Prominente Musiker allen voran Gidon Kremer setzen sich für Auerbachs Musik ein, und so hat der Sikorski-Verlag im vergangenen Jahr mit ihr einen Vertrag über die Veröffentlichung von 49 Kompositionen abgeschlossen.
Erstes Werk in dieser Reihe sind die 1999 komponierten und 2003 überarbeiteten 24 Präludien für Violine und Klavier. Der Zyklus wurde im Juni 2003 innerhalb von John Neumeiers Hamburger Ballettproduktion Préludes CV durch Vadim Gluzman und Angela Yoffe uraufgeführt denselben Künstlern, denen auch das Werk gewidmet ist und die die CD-Ersteinspielung vorgelegt haben (BIS 1242). Eine Aufführung aller 24 Präludien dauert etwa eine Stunde, die Aufführung der Suite für Violine und Klavier
op. 46 a, die die Komponistin aus zehn der Präludien zusammengestellt hat (Nr. 1, 6, 8, 12, 14-16, 20, 23, 24), dauert etwas über 22 Minuten. (Unverständlicherweise fehlt in der Sikorski-Ausgabe ein Verweis auf diese Variante, die bereits 2001 in New York uraufgeführt wurde und sich im Konzertbetrieb möglicherweise eher durchsetzen wird als die Komplettversion.)
Wie auch Auerbachs Parallelzyk-
len für Klavier op. 41 und für Cello mit Klavier op. 49 knüpfen die 24 Präludien für Violine und Klavier in allen Dur- und Molltonalitäten von C-Dur bis d-Moll an die Tradition des Wohltemperierten Klaviers an. Bereits Komponisten wie Chopin, Skrjabin, Rachmaninow und Schostakowitsch hatten sich von Bachs Reise durch den Quintenzirkel inspirieren lassen. Und bei Auerbach wird die Auseinandersetzung mit der Tradition geradezu zum Programm. So finden wir eine Huldigung an Bachs Sicilianos (Nr. 8), ein barockes Fugato (Nr. 11) und ein Presto im Stil der Bachschen Solosonaten
(Nr. 24). Darüber hinaus zeigt sich die Komponistin aber auch als Erbin von Schostakowitsch und Schnittke: Deutlich wird dies in einem verfremdeten Walzer (Nr. 2), in verzerrten Folkloreklängen (Nr. 3 und Nr. 9), in einem Satz mit unerbittlichen molto sul ponticello-Passagen (Nr. 16) und rhapsodischen Ausbrüchen (Nr. 18). Dabei machen die klar definierten Charaktere der einzelnen Miniaturen neugierig darauf, wie Auerbach wohl größere Formen gestalten mag.
Da die Präludien auch handwerklich gut gearbeitet und dazu effektvoll für die beiden Instrumente komponiert sind, sollte man erwarten, dass viele Geiger mit Lust auf Neue Musik sich die Sammlung anschaffen werden. Weitere Pluspunkte der Publikation sind das klare Notenbild, die günstigen Wendestellen und der anscheinend von Irrtümern so gut wie freie Notentext (im ersten Takt von Nr. 21 ist ein Fingersatz verrutscht).
Aber ein ganz prosaisches, doch schwer wiegendes Hindernis steht der Verbreitung von Auerbachs Musik im Weg: der Preis (wohlgemerkt, es handelt sich nicht um einen Druckfehler). Denn die einzigen, die sich von den mehr als fünfzig Euro nicht abschrecken lassen werden, sind wohl ein paar unerschütterliche, opferbereite Anhänger Neuer Musik und einige mit dem Anschaffungsbudget einer guten nordamerikanischen Universitätsbücherei gesegnete Bibliothekare. Die meisten anderen werden vermutlich erst einmal auf die Bekanntschaft mit Auerbach verzichten oder
bis zum ersten einträglichen Konzertengagement mit dem Werk auf illegale Kopien zurückgreifen.
Natürlich musste der Verlag für die insgesamt über hundert Notenseiten einige Tausend Euro in den Computernotensatz investieren, aber da Sikorski auf einen festen Umschlag und Fadenheftung verzichtet hat, dürften sich die Papier- und Bindekosten in Grenzen halten. Man fragt sich nun doch, ob der Verlag mit einer solchen Preispolitik der Komponistin wirklich einen Dienst erweist. Denn eines darf man bei einer solchen Bewertung nicht vergessen: Ändert sich das Urheberrecht nicht (heute sind in Deutschland alle Kompositionen 70 Jahre über den Tod des Autors hinaus geschützt) und geht man bei der Komponistin von einer durchschnittlichen Lebenserwartung aus, dann wird Sikorski mit den 24 Präludien durch Notenverkauf und GEMA-Tantiemen aus Konzert- und Ballettaufführungen mindestens noch bis zum Jahr 2120 Geld verdienen. Aber vielleicht senkt ja der Verlag bis dahin den Preis noch ein wenig.
Martin Wulfhorst