Merk, Joseph
20 Etüden für Violoncello op. 11
hg. von Martin Rummel
Den meisten Cellisten unserer Tage dürften die Etüden des 1795 in Wien geborenen Joseph Merk nicht so geläufig sein wie die Lehrwerke Duports, Poppers oder Grützmachers. Dass ihre Bekanntschaft lohnt, belegt die vorliegende Neuausgabe, dokumentieren sie doch jenes Stadium der Cellohistorie, da die Grundlage der klassischen Technik gelegt, das Zeitalter der romantischen Virtuosen jedoch noch nicht angebrochen war. Gewiss ist die Vernachlässigung dieser Etüden Folge eines hauptsächlich an Spätromantik und gemäßigter Moderne ausgerichteten Repertoires, denn anders als Popper oder Grützmacher bieten Merks Etüden nicht unbedingt ideales Übungsmaterial für den hohen Griffbrettbereich oder gesteigerte Bogen-Akrobatik, sondern vielmehr für die cellistischen Anforderungen der Beethoven- bis Mendelssohn-Zeit. Der Ambitus von drei Oktaven (C bis c”) wird selten überschritten, und selbst Passagen, in denen ein d” oder e” auftaucht, sind als Ausflüge auf der A-Saite angelegt. An keiner Stelle wird die Greifhand in der hohen Lage über die Saiten geführt wohl ein Anzeichen dafür, dass die Ausführung melodischer Linien in der Daumenlage zu Merks Zeit noch keine Selbstverständlichkeit war.
Im vorgegebenen Rahmen entwickelt Merk einige kompositorische Originalität. Neben einteiligen, metrisch gleichförmigen Etüden finden sich zahlreiche mehrteilige Stücke, in denen Formverläufe der Klassik etüdengerecht aufbereitet werden, so etwa die Variationen-Etüden Nr. 8 und Nr. 20, die vierteilige fis-Moll-Etüde Nr. 14 und die c-Moll-Scherzo-Etüde Nr. 11. Letztere sollte jeder Beethoven-Spieler zum Pflichtprogramm machen!
Die an dieser Stelle im Zusammenhang mit den Bärenreiter-Ausgaben der Popper- und Grützmacher-Etüden (vgl. Das Orchester 6/07, S. 75) geäußerten Vorbehalte gegenüber Rummels editorischem Ansatz können auch hier nicht entkräftet werden. Welches Ziel Rummel verfolgt, bleibt unklar angesichts der Tatsache, dass gegenwärtig drei weitere Ausgaben der Merk-Etüden auf dem Markt sind, darunter ein Reprint der von Julius Klengel edierten Ausgabe. Rummel bezieht sich auf die Wiener Erstausgabe Haslingers, die vermutlich aus den 1830er Jahren stammt
Exakter ließ sich dies nicht ermitteln? Diese, so Rummel, zeige deutlich die bis heute erhaltene Wiener Spieltradition: möglichst schlichte Kombinationen, keine Scheu vor leeren Saiten und in vielen Fällen die erste Lage [
]. In diesem Sinne wurden die Originale zum allergrößten Teil belassen und, wo nötig, behutsam ergänzt. Und wo war es nötig? Und warum? Wenn wir schon konstatieren müssen, trotz Bärenreiter-Einbandes keine Urtextausgabe vor uns zu haben, dürften wir doch Aufklärung darüber erwarten, wo innerhalb der Fingersatz- und Strichbezeichnung Haslinger endet und wo Rummel beginnt.
Bei allem schuldigen Respekt: Im Kontext des Bärenreiter-Sortiments und mit Blick auf dessen außerordentlichen editorischen Rang muten Rummels Etüden-Ausgaben seltsam deplatziert an.
Gerhard Anders