Widmann, Jörg

180 beats per minute

für Streichsextett (2 Violinen, 1 Viola, 3 Violoncelli oder 2 Violine, 2 Violen, 2 Violoncelli), Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: das Orchester 12/2013 , Seite 75

Kann man Musik sehen? Gewiss, werden Dirigenten erwidern, die allein aus dem Partiturbild eines Werks ableiten können, wie dieses klingen wird – ganz ohne die Zuhilfenahme eines Instruments oder gar einer Aufnahme. Es gibt aber auch Musik, die sich bereits aufgrund ihrer Strukturen, ihrer formalen Anlage optisch erschließt. Minimal Music stellt eine solche Gattung dar. Wenn man beispielsweise Partituren von Werken Steve Reichs oder Philip Glass’ aufschlägt, sind Rhythmus und Energie dieser Musik unmittelbar visuell gegenwärtig.
Ähnlich mag es dem Partiturleser gehen, der die jüngst bei Schott erschienene Ausgabe der 180 beats per minute von Jörg Widmann in der Hand hält. Zwar schuf der äußerst produktive Komponist mit diesem kurzen Stück vor 20 Jahren keine Minimal Music im engeren Sinn, doch nach eigener Aussage im Vorwort orientierte er sich beim Schreiben an der damals enorm populären Techno-Musik, die ja keinesfalls so furchtbar weit von Minimal Music entfernt ist. Widmann geht es in diesem rund sechs Minuten dauernden Stück, dessen Titel als Aufführungsanweisung durchaus wörtlich zu nehmen ist, um den Rhythmus als Protagonisten in einem Gewand aus sechs streng gekoppelten Streicherstimmen. Diese variieren ein sehr stark begrenztes Tonmaterial: einen einzigen Dur-/Moll-Akkord.
Zu Beginn setzt das mit zwei Violinen, Viola und drei Violoncelli ungewöhnlich besetzte Streichsextett scharfe Akzente bei stetig steigender Lautstärke, wechselt dann in echoartige, Hell-Dunkel-Kontraste bietende Strukturen, bevor sich ein sechsstimmiger Streicherkanon entwickelt, der in einer vehement dahinstürmenden Stretta endet. Die in Wellen vom Pianissimo bis zum fünffachen (!) Forte sich steigernde Musik strotzt dabei vor Kraft und bietet Impuls pur.
Und um im Partitur-„Bild“ zu bleiben: Dieses kurze Sextett Jörg Widmanns erfordert schon optisch anhand der Noten erkennbar ein sechsköpfiges Streicherensemble, das sich weitgehend auf die Darstellung der kantigen horizontalen Strukturen konzentrieren muss. Tonlich subtile Ansätze sind hier weniger gefragt als vielmehr ein stürmischer rhythmischer Drive; auch deswegen öffnet der Komponist sein Werk für die Ausführung in der traditionellen Streichsextettbesetzung mit je zwei Violinen, Violen und Violoncelli. Nur in der stetigen, unablässig mit Energie gespeisten Bewegung lebt dieses „Feroce, agitato“ überschriebene Werk – und wenn denn im Überschwang aus den 180 Schlägen in der Minute 185 werden sollten, wird der 40-jährige Münchner sicher nichts dagegen haben.
Daniel Knödler