Lilkendey, Martin

100 Jahre Musikvideo

Eine Genregeschichte vom frühen Kino bis YouTube

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transcript, Bielefeld 2017
erschienen in: das Orchester 07-08/2017 , Seite 59

Es ist eine faszinierende Reise, auf die einen Martin Lilkendey in seinem lesenswerten und informativen Buch 100 Jahre Musikvideo. Eine Genregeschichte vom frühen Kino bis YouTube mitnimmt. Sie startet 1894/95 mit einem 17 Sekunden dauernden Film von William Dickson, der eine populäre Barkarole auf der Violine spielt, zu der zwei Männer Arm in Arm tanzen: ein Kurzfilm, der allerdings noch nicht öffentlich war und daher nur die Vision eines ersten Musikvideos darstellt.
Lilkendey ersetzt den Begriff Musikvideo durch Musikkurzfilm, da die frühen Videos, technisch betrachtet, eigentlich Filme sind. Auch widerspricht er der Funktion dieser Filme, die bislang hauptsächlich als Werbung für Schallplatten betrachtet wurden. Diese kommt für Lilkendey nur hinzu, primär sei die Funktion die der „ästhetischen Unterhaltung“, denn der Musikkurzfilm sei ein „eigenständiges künstlerisches Produkt“ mit folgenden vier Merkmalen: fest mit Ton synchronisiert; die Länge eines Musikstücks; präsentiert populäre Musik seiner Zeit; und gedacht als Unterhaltung für ein breites Publikum. Gemäß dieser Kriterien kann er ihn lückenlos ab etwa 1903 bis in die heutige Zeit nachweisen und stellt sich damit gegen bisherige Theorien, die seinen Beginn mit dem Start des Musikfernsehsenders MTV 1981 gleichsetzten.
So führt die Reise z.B. über als Soundies bezeichnete Jukeboxen, die ab 1940 Jazzmusikkurzfilme auf eine Mattscheibe projizierten, über das Musikfernsehen in den USA (Elvis Presley), in Großbritannien (The Beatles) und in Deutschland (Schlager in der ARD-Sendereihe ab 1954 Heut gehn wir ins Maxim bis Jazz/Klassik/Pop bei Götz Alsmanns Nachtmusik) über den teuersten Musikkurzfilm aller Zeiten (1995: Scream von Michael und Janet Jackson: 7 Millionen US-Dollar) bis zu YouTube.
Diese Plattform, die von der jüngeren Generation längst als Fern­sehersatz genutzt wird, hat ihre eigenen Stars hervorgebracht: Justin Bieber erhielt seinen Plattenvertrag aufgrund seiner dortigen Musikkurzfilme, von denen heute mehrere die Milliarden-Klickgrenze weit überschritten haben. Das ist es, worauf es heute ankommt: „Am Ende zählen die Klicks.“ Auch in der Klassik, die in diesem Buch nur am Rand behandelt wird, obwohl manche Interpreten in Musikkurzfilmen auch populäre Musik einem breiten Publikum präsentieren, haben sich in den letzten Jahren YouTube-Karrieren entwickelt.
Es entspricht dem Stil einer Dissertation, die diese Studie tatsächlich auch ist, die Entwicklung der Musikkurzfilme der vergangenen hundert Jahre auf nur 200 Seiten mit Argumenten, Statistiken und Übersichtsgrafiken, aber leider ohne Bilder abzuhandeln, was gerade bei diesem Thema bedauerlich ist. Die Geschichte der Musikkurzfilme hätte es verdient, auf der Grundlage dieser Studie zusätzlich als ein reich bebildertes umfangreiches populärwissenschaftliches Buch zu erscheinen.
Jörg Jewanski