Schnebel, Dieter
1. Streichquartett “im Raum”
Partitur und Stimmen
Unterschiedlicher als diese beiden zeitgleich erschienenen Werke können Streichquartette wohl kaum sein. Dieter Schnebel, geboren 1930 im badischen Lahr, gehört zweifelsfrei seit mehr als einem Vierteljahrhundert zu den profiliertesten deutschen Tonschöpfern. Er studierte Musik an der Hochschule in Freiburg i.Br., danach evangelische Theologie, Philosophie und Musikwissenschaft in Tübingen. In der Folge war er als Pfarrer wie auch als Lehrer tätig, wurde als Professor für experimentelle Musik 1976 an die HdK (heute UdK) Berlin berufen. Der Theologie bleibt er als Prediger an der Johann-Sebastian-Bach-Kirche in Berlin bis heute aktiv verbunden.
Schnebels frühe Kompositionen sind Beleg für den prägenden Einfluss Arnold Schönbergs auf sein musikalisches Denken, etwas später wendet er sich seriellen Techniken zu. John Cage wird zu einem wichtigen Orientierungspunkt für seine weitere musikalische Entwicklung. Die beruflichen Tätigkeiten als Pastor und als Gymnasiallehrer für Musik lenken sein musikalisches Interesse in neue Bahnen. Es entstehen Chorwerke, die ihm sehr schnell überregionale Aufmerksamkeit und Anerkennung einbringen. Stilistisch formen sich Grundzüge, die seinen Werken, so vielfältig sie auch ansonsten in Besetzung und Anspruch sein mögen, seither eigen sind: das Ausloten der Grenzbereiche zwischen Geräusch, Sprache und Musik die Frage, wann und wie aus Geräusch Klang, aus Klang Musik wird, wird ihn ein Leben lang umtreiben , die Einbeziehung des Raums in die Komposition, die gestische Ausformung akustischer Äußerung.
Das vorliegende 1. Streichquartett aus dem Jahr 2006 ist nicht seine erste Komposition für diese Besetzung. Auffällig sind die gewaltigen, nahezu symphonischen Dimensionen, die Aufführungsdauer ist mit 42 Minuten angegeben. Die Komposition zeigt alle Eigenheiten von Schnebels Personalstil. Vieles erinnert mich an die 4 Stücke für Violine und Klavier von 1991, die ich öfters gespielt und auch aufgenommen habe. Im Vorwort beschreibt der Komponist das Stück als eine Raumkomposition und also ein szenisches Streichquartett. Es gibt für die Ausführenden verschiedene Positionen im Saal, welche Raumklang ermöglichen sollen. Also müssen die Ausführenden immer wieder auch Ortswechsel vornehmen. Dem ganzen eignet ein starkes rhetorisches wie gestisches Element. Klangpunkte leuchten plötzlich grell auf, hingeworfene Geräuschfetzen, gefolgt von Stille. Spielerisch wiederholen sich kleine, rasche, ostinate Motive oder mutieren minimalistisch, schrille dynamische Kontraste finden sich auf engstem Raum.
Schnebel verlangt den Interpreten einiges ab: komplexe Rhythmen, das Spiel in extremen Lagen, ungewöhnliche Spieltechniken. Die Partitur fordert das Klopfen oder Trommeln mit der Fingerkuppe bzw. mit dem -nagel auf den Instrumentenkorpus, das Aufschlagen des Bogens an Frosch, Mitte und Spitze, ungewöhnliche pizzicato-arco-Kombinationen, das Umstimmen der Saiten, die Produktion diverser Geräuschklänge (Peitschenschlag mit dem Bogen, weißes Rauschen, Kratzen, Knarzen, quasi Vogelrufe, den Stachel auf dem Boden nachziehend usw.). Und nicht zu vergessen: alles im Rahmen einer detaillierten Choreografie.
Wie aus einer anderen Welt erscheint das 2003/04 für das Kronos-Quartett komponierte 5. Streichquartett von Peteris Vasks. Der 1946 geborene Lette, heute allgemein als einer der bedeutendsten Tonschöpfer unserer Zeit anerkannt, erfuhr seine musikalische Ausbildung als Kontrabassist und Komponist in Riga und Vilnius. In den 1960er und 1970er Jahren war Vasks Mitglied verschiedener Sinfonie- und Kammerorchester in Litauen und Lettland, bevor er sich 1974 ausschließlich dem Komponieren zuwandte. Peteris Vasks lebt als freischaffender Komponist in Riga.
Über sein 5. Streichquartett schreibt er: In dieser Komposition wollte ich erzählen, wie wir alle ein Teil der Welt und auch eine Welt für uns selber sind; ich wollte auch von der Existenz und Notwendigkeit des Idealismus sowie der Liebe um uns erzählen. Im Laufe des kreativen Prozesses stand ich nicht als Beobachter am Rande, sondern wurde als gegenwärtiger und engagierter Beteiligter hineingezogen. Das 5. Streichquartett besteht aus zwei gegensätzlichen Sätzen. Der erste Satz führt sofort in eine Atmosphäre der emotionalen Hochspannung. Die vorherrschenden musikalischen Stimmungselemente sind dramatisch und stürmisch und lösen sich kaleidoskopartig ab. Als Kontrast wird ein zweites Thema drei Mal intoniert eine Einladung, eine Erinnerung an die Existenz einer anderen Welt, ein Leuchtturm, der das Zwielicht, in dem wir so oft leben, erhellt. Aber die Einladung wird nicht gehört; der erste Satz schließt mit Dissonanzen im hohen Register ein Schrei voller Verzweiflung.
Der zweite Satz: der ruhige, gemächliche und gesangliche Teil des Quartetts. Ein vergebener, liebevoller Blick auf eine Welt, die durch Schmerz und Widersprüche gequält wird. Allmählich wird der Gesang persönlicher, emotioneller und dramatischer. Die rhythmische Figur eines Trauermarsches in der Reprise des zweiten Satzes: Geste eines Verlusts. Schließlich verliert sich das Quartett in der Stimmung einer mit Licht erfüllten Trauer. Ein Kreislauf ist beendet. Wir leben weiter.
Auch dieses Werk offenbart alle Eigenarten der persönlichen Klangsprache des Komponisten. Die Musik ist weitestgehend der Tonalität verhaftet, Experimentelles bleibt fast gänzlich mit Ausnahme dreier Takte im 1. Satz, in denen die 1. Violine hinter dem Steg zu spielen hat ausgespart. Der Musik eignet ein insgesamt depressiver, gelegentlich zornig aufbegehrender, jedenfalls hochemotioneller, bekenntnishafter Grundzug. Weniger präsent als in anderen Werken Vasks erscheint das tänzerisch-folkloristische Element (Violinkonzert!), umso prominenter dagegen das sangliche. Mich erstaunt bei Vasks immer wieder, so auch im vorliegende Quartett, diese besondere Fähigkeit anzurühren. Romantisch, postmodern, neu? Alle üblichen Kategorien scheinen hier plötzlich irrelevant. Erkenntnis, Bewusstseinserweiterung statt Emotion? Nein! Erkenntnis durch Hinwendung zur Emotion! Aufführungs- und spieltechnisch bietet das 25 Minuten dauernde Werk keine größeren Probleme.
Fazit: zwei interessante und wichtige Erweiterungen des Quartettrepertoires, die ihren Reiz gerade aus ihrer Gegensätzlichkeit beziehen und eindrucksvoll deutlich machen, wie verschieden Musik unserer Zeit sein kann.
Herwig Zack