Müller-Siemens, Detlev
1. Streichquartett
für 2 Violinen, Viola und Violoncello, Partitur und Stimmen
Es ist relativ ruhig geworden um die einstigen Verfechter einer neuen Einfachheit, die es doch eigentlich nie gegeben hat und als journalistisches Etikett für reichlich heterogene Phänomene Mitte der 1970er Jahre einen allgemeinen Richtungswechsel von struktureller Selbstgefälligkeit hin zu einer emphatischen Ausdrucksmusik im Dialog mit der Tradition annoncierte. Gingen Wolfgang von Schweinitz, Manfred Trojahn, Detlev Müller-Siemens und manch andere schon damals durchaus unterschiedliche Wege, sind die ästhetischen Prämissen und kompositorischen Strategien im Zuge individueller Positionsbestimmungen unterm Zeichen der Postmoderne erst recht nicht mehr in eine gemeinsame Schublade einsortierbar gewesen. Suchte man dennoch latente Gemeinsamkeiten der ehemals scheinbar Verbündeten, ließe sich immer noch ein Hang zu expressiver Unmittelbarkeit ausmachen, die ihren Reiz inzwischen aus der Spannung intuitiver Verfahren und konstruktiver Materialmetamorphosen bezieht. Ein regulatives Wechselspiel, das auch das 1. Streichquartett (1989/ 90) von Detlev Müller-Siemens betrifft, das auffallend spät auf den Plan des ehemaligen Ligeti- und Messiaen-Schülers trat, wenn man die allgemeine Affinität zu traditionellen Formtypen in den 1980er Jahren bedenkt.
Müller-Siemens eigenwillige Gattungspremiere, Auftrag der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, ist in seiner raumgreifenden rhythmischen Homofonie nicht gerade ein Paradebeispiel polyfoner Komplexität, noch weniger erweist die konventionelle Viersätzigkeit geläufigen Satzcharakteren der kammermusikalischen Vorzeigedisziplin die Ehre. Die erscheint gleichsam als auskomponiertes Diminuendo in vier Schüben, die intern von zahlreichen Tempowechseln und plakativen Dynamik-Kontrasten beunruhigt sind. Besonders unstet zeigt sich in dieser Hinsicht der Kopfsatz, der die grundlegenden Charaktere und Motivgestalten des etwa halbstündigen Quartetts im Rahmen einer rondo-artigen Disposition als elementare Spannung von Rhythmus und Melodie exponiert: schroffe ff-Akkordik, zumeist in Gestalt prägnanter Triolen-Rhythmik sowie weit ausschwingende Melodie-Bögen und introvertierte Klangfelder, die nicht selten subito von brutalen Störungen heimgesucht werden.
Die für das gesamte Quartett konstitutive Schroffheit des Ausdrucks mit deutlicher Präferenz dissonanter Sekund-, Sept- und Non-Klänge beherrscht auch die brüchige Klanggestik des zweiten Satzes Sostenuto, mit Ruhe (Achtel = 60-72), die gelegentlich tonale Allusionen integriert und deutliche Reminiszenzen an den Kopfsatz beinhaltet. Die melodischen Bewegungen, die nach einem Geflecht vielfarbiger, oft perkussiver Einzelakzente mehr und mehr Gestalt gewinnen, finden jedoch unter extremem Bogendruck ein jähes Ende in bruitistischen Kratzgeräuschen, bevor ab T. 43 eine fast wörtliche Reprise des Beginns einsetzt.
Auch der Intenso (Viertel = 52) überschriebene dritte Satz arbeitet auf engem Raum mit intensiver Klangfarbendifferenzierung und teils extremen Geräuschklängen (häufiges sul ponticello in größter Lautstärke), wobei ein breites Spektrum unterschiedlicher Spieltechniken Anwendung findet. Der zweifelsohne gewichtigste Satz des Werks entwickelt aus einem klangfarblich modulierten Einklang auf e’ eine blockhafte Kontrastdramaturgie unterschiedlicher Klangfelder zwischen agressiven Akkord-Schlägen, melodischen Lineaturen und ätherischen Klangschwebungen.
Eher wie ein Epilog und Nachhall vorangegangener Erschütterungen erscheint der knapp gehaltene Schlusssatz Calmo ed espressivo, ma sostenuto (Viertel = 40-44), dessen ruhige Außenabschnitte mit flüchtigen melodischen und harmonischen Gesten einen leidenschaftlich-erregten Mittelteil (T. 23-36) einrahmen.
Dirk Wieschollek