Jolivet, André
Épithalame/Madrigal/Missa Uxor Tua
Das SWR Vokalensemble hat bei seinen jüngsten Einspielungen einen ungemein weiten stilistischen Radius abgesteckt. Dieser reicht von einer Echo-preisgekrönten Aufnahme von Anton Bruckners e-Moll-Messe (siehe das Orchester 12/08, S. 66) über Chorwerke Elliott Carters (das Orchester 2/09, S. 67) bis zu einer Hommage an Robert Schumann. Im Schumann-Jahr befasst sich das Ensemble unter Rupert Huber mit Romanzen und Balladen für Chor, wobei neben der hervorragenden sängerischen Qualität auch die gestalterische Intelligenz der Musiker anspricht. Neben diesen bei Hänssler Classic vorgelegten CDs hat das SWR Vokalensemble Stuttgart mit seinem Leiter Markus Creed nun eine exzellente Einspielung von Chorwerken von André Jolivet vorgelegt, die die Kompetenz des hervorragenden Chors im Bereich der Musik des 20. Jahrhunderts unterstreicht.
Jolivet wurde 1905 in Paris geboren und arbeitete bis 1942 als Lehrer, bevor er als Dirigent und musikalischer Berater an die Comédie Française kam. Er gehörte zusammen mit Olivier Messiaen, Daniel Lesur und Yves Baudrier der Gruppe Jeune France an. Mit der Vokalpolyfonie des 15. und 16. Jahrhunderts wurde er von seinem ersten Lehrer Paul Le Flem bekannt gemacht, bei Edgard Varèse erhielt er Einblicke in die atonale Musik. 1927 hatte Jolivet durch einen Besuch Schönbergs in Paris erstmals mit ihr Kontakt gehabt.
Mystizismus, Offenheit für alle Strömungen der Gegenwartsmusik bis hin zum Neoklassizismus, aber auch der Einfluss außereuropäischer Musik wie in seinem Klavierzyklus Mana prägen die stilistisch schwer einzuordnende Musik des Franzosen. Klangsensibilität und Durchhörbarkeit ist sicher ein Zeichen seiner Vokalmusik, die ihn im weitesten Sinn in die
Tradition französischer Musik einordnen lässt und die die drei Kompositionen für Chor prägt, die auf der CD des SWR Vokalensembles Stuttgarts versammelt sind.
Sinnlichkeit und Religiösität verbinden zwei Kompositionen, die vom SWR Vokalensemble hier mustergültig interpretiert werden: Épithalame (Hochzeitslied) aus dem Jahr 1956 für zwölfstimmiges Vokalorchester anlässlich des 20. Hochzeitstages von Jolivet komponiert, und die 1962 anlässlich der Heirat seines Sohnes entstandene Missa Uxor Tua für fünfstimmigen gemischten Chor und Instrumente. Von den vokalen Glockenimitationen zu Beginn von Épithalame über rasante Registerwechsel, farbreiche Akkordmixturen und rhythmische Extravaganzen wird das SWR-Ensemble unter seinem Chefdirigenten in jedem Moment der Musik gerecht. Hier wird der Chorklang quasi sinfonisch behandelt, wie es zuvor kaum in der Musikgeschichte gelungen ist.
Bei der Missa Uxor Tua ergänzen die Instrumentalisten des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR die vokale Imitation orchestraler Farben mit ungewöhnlichen Spieltechniken. Das dreiteilige, in freier Atonalität gehaltene Madrigal für gemischten Chor und Instrumente ist ebenfalls von einer Verquickung von Spiritualität und erotischem Ausdruckswillen geprägt, der vom SWR Vokalensemble mit großem sinnlichen Reiz und stimmtechnischer Perfektion interpretiert wird.
Walter Schneckenburger