Bruckner, Anton

Sinfonie Nr. 4

Livemitschnitt

Rubrik: CDs
Verlag/Label: CD-Sonderedition der Staatsoper, Unter den Linden, Tel. 030/20 35 45 55
erschienen in: das Orchester 02/2011 , Seite 74

Die Sinfonien Anton Bruckners haben in dem Dirigenten Daniel Barenboim einen Interpreten gefunden, der sich mit ihnen immer wieder im Konzertsaal und auf CD befasst. Die 4. Sinfonie, die Barenboim nun mit seiner Staatskapelle Berlin zum dritten Mal eingespielt hat – zuvor hat er sich für die Es-Dur-Sinfonie schon mit dem Chicago Symphony Orchestra und den Berliner Philharmonikern eingesetzt –, scheint dabei ein Werk zu sein, das ihm besonders liegt. Die Vierte, von Bruckner selbst im Autograf als „Romantische“ bezeichnet, hat eine selbst für den durch seine häufigen Umarbeitungen seiner Sinfonien in der Musikgeschichte fast einzigartig stehenden Komponisten eine besonders verwickelte Entstehungsgeschichte. Zwischen dem 2. Januar und dem 22. November 1874 entstand die Urfassung der Es-Dur-Sinfonie. Nachdem Bruckner 1876 mit den Versuchen, das Werk in Berlin oder Wien uraufführen zu lassen, keinen Erfolg hatte, entschied er sich für eine einschneidende Umarbeitung: Es entstand ein vollkommen neues Scherzo, die Ecksätze wurden erheblich gekürzt. Aber auch in dieser Fassung kam das Werk nicht zur Uraufführung. Zwischen 1879 und 1880 überarbeitete der Komponist den Finalsatz. In dieser Fassung von 1878/80 dirigiert Barenboim auch den nun vorliegenden Livemitschnitt. Man kann dem Booklettext zwar nicht widersprechen, dass diese Fassung der überwiegenden Zahl der aktuellen Aufführungen zugrunde liegt, sollte aber ergänzen, dass gerade in jüngerer Zeit Dirigenten wie Kent Nagano oder Simone Young beachtliche Aufnahmen der Urfassung vorgelegt haben.
Im Vergleich zu der 1992 ebenfalls in der Berliner Philharmonie aufgenommenen Einspielung mit den Berliner Philharmonikern, die im Rahmen der Gesamteinspielung der Bruckner-Sinfonien Barenboims noch vorliegt (Warner 256461891-2), haben sich die Klangintentionen des Dirigenten deutlich verändert. Dies fällt schon beim berühmten Horn-Beginn des Kopfsatzes auf. Mit seiner Berliner Staatskapelle pflegt Barenboim einen dunkleren, das Blech auch bei den wuchtigen Höhepunkten nicht zu sehr in den Vordergrund rückenden Stil. Obwohl der erste Satz von der Spielzeit von gut 19 Minuten her fast gleich geblieben ist, ist der Charakter der neuen Aufnahme ein anderer. Sie wirkt viel breiter, entspannter, weniger strahlend als mit einer Spur Resignation versehen.
Die in allen Orchestergruppen sehr ausgeglichen besetzte Berliner Staatskapelle folgt Barenboim auf diesem Weg mit Hingabe. Besonders im Andante überzeugen die Streicher durch ihre differenzierte Klangfarbendramaturgie. Im Scherzo mit seinen Jagd-Anklängen formt Barenboim mit Hilfe seiner aufmerksamen Blechbläser ein dynamisch sehr differenziertes Klangbild, das nie brachial wirkt. Barenboim kommt es auch bei Passagen, in denen die Kraftentfaltung oft im Vordergrund steht, auf klangliche Rundung an. Im Finale lässt Barenboim seine Staatskapelle dann machtvoll aufdrehen, ohne jedoch die Kontrolle über das dynamische Geschehen zu verlieren. Barenboim zeigt sich auch hier als Bruckner-Dirigent mit langem Atem, der das Finale eindrucksvoll zu gestalten weiß.
Walter Schneckenburger

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