Romantic Virtuosity
Fleißige Trompeten-Schüler, die ihren Arban gelernt haben, hatten es schon immer geahnt: Die Trompeten-Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hält noch mehr Bravourstücke bereit als etwa Variationen über den Karneval von Venedig oder Fantasien wie Wiedersehensfreude. Die kurzen Studien und Solostücke mit atemberaubenden Trillern, sentimentalem Portamento und vehementem Doppelschlag in dieser 1864 erstmals veröffentlichten Trompetenschule öffnen das Tor zum Virtuosentum der Zeit des Joseph Jean-Baptiste Laurent Arban sprich zur spätromantischen Epoche.
Mit “Romantic Virtuosity” legt nun der junge deutsch-schweizerische Trompeter Giuliano Sommerhalder eine CD vor, die die teilweise zungen- und halsbrecherischen Werke eines Vladimir Peskin, Vassily Brandt, Gustav Cords, Oskar Böhme und Carl Höhne in den Mittelpunkt rückt. Nicht weniger als sieben Ersteinspielungen der Orchesterfassungen präsentiert der Solist des Gewandhausorchesters Leipzig zusammen mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Heiko Mathias Förster.
Die wichtigste Frage muss dabei lauten: Sind es musikalische Entdeckungen oder doch nur nette, teilweise für das Cornet à Piston geschrie-bene und von Sommerhalder auch auf dem Kornett gespielte Repertoire-Erweiterungen? Zweifellos erwirbt sich Sommerhalder größte Meriten mit seinen hier vorgestellten Ausgrabungen. Der in Potschappel bei Dresden geborene Oskar Böhme sowie der Coburger Willy (später Vassily) Brandt stehen für den deutschen Einfluss auf die russische Musik und insbesondere auf die russische Trompeter-Schule dieser Zeit; Vladimir Peskin ist einer ihrer wichtigsten Vertreter. Von ihm spielt Sommerhalder das ein wenig an Rachmaninow, aber vor allem an die Finessen zwischen Solo-Bravour und ausschweifender Melodik seines Lehrer Samuil Feinberg erinnernde Konzert Nr. 1 in c-Moll. Im fesselnden e-Moll-Konzert Böhmes sind deutliche Parallelen zu Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert zu entdecken. Brillant auch Böhmes “La Napolitaine Tarantella” op. 25.
Spätromantische Orchesterschwere wird dabei von der Neuen Philharmonie Westfalen unter Förster ohne Scheu und mit viel Pathos zelebriert. Für die spielerische Leichtigkeit hat wie in Brandts Moll-Konzertstücken op. 11 und op. 12 der Solist zu sorgen. Eher deutsch, ja fast preußisch gedacht ist die “Slavonic Fantasy” von Carl Höhne. Dem östlichen Idiom kommt da schon der “Danse russe” op. 32 von Oskar Böhme weitaus näher.
Sommerhalder absolviert die Parforce-Ritte über gewagte Intervallsprünge, irrwitzige Skalen-Läufe, Ton-Kaskaden und melodisch feine Linien mit Bravour. Das ist Trompetenkunst in höchster Vollendung, auch wenn das Kornett mit einer leichteren Tonansprache dem Solisten entgegen kommt. Die 80-minütige Tour de Force durch die Spätromantik lässt am Ende freilich eine Erkenntnis zurück: In diesem virtuosen Drahtseilakt wird die raffinierte Kunstfertigkeit vielfach zum Selbstzweck. Diese CD schließt romantische Repertoire-Lücken, der musikalische Gehalt ist freilich nicht immer auf der Höhe der solistischen Extravaganz.
Christoph Ludewig