Mendelssohn Bartholdy, Felix
Jugendwerke
Eines der sichersten Anzeichen dafür, dass Felix Mendelssohn Bartholdy als Komponist wirklich (und hoffentlich unwiderruflich) im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist, ist die Tatsache, dass mittlerweile nicht nur für die populärsten Werke wie die Italienische oder den Elias mehrere Einspielungen vorliegen, sondern auch für die bislang weniger bekannten. Dies gilt insbesondere für die große Zahl von zu Lebzeiten unveröffentlichten Jugendwerken Mendelssohns Kompositionen, die der Teenager unter der Aufsicht seines Lehrers Zelter anfertigte.
Diesen Jugendwerken, die als Stilstudien und als Vorboten des reifen Mendelssohn von Interesse sind, denen aber auch beträchtliches Eigengewicht zukommt, ist die vorliegende CD des GewandhausChors und des Mendelssohnorchesters unter Gregor Meyer gewidmet. Sie konzentriert sich vor allem auf die geistliche Chormusik in recht hoher Bandbreite: Neben einer sehr bachischen Choralkantate (Wer nur den lieben Gott lässt walten) stehen zwei a-cappella-Werke (das Kyrie c-Moll von 1823 und als einziges von Mendelssohn der Publikation für würdig befundenes Werk der Choralsatz Mitten wir im Leben sind op. 23/3) und eines der allerersten Chorwerke überhaupt, das Magnificat von 1822, nach der gleichnamigen Komposition von Carl Philipp Emanuel Bach. Das Bild wird abgerundet durch eine der zwölf Streichersinfonien (Nr. 3 e-Moll, 1821).
Die Einspielung konkurriert mit den Gesamteinspielungen der Chormusik durch Frieder Bernius und Nicol Matt einerseits und den mittlerweile recht zahlreichen Aufnahmen der Streichersinfonien andererseits.
Sie muss sich diesen gegenüber zwar nicht verstecken aber sie geht über sie auch nicht hinaus. Der Chor deklamiert ausgezeichnet, singt klangschön und klar, mit nur leichten Ungenauigkeiten in den schwierigen Passagen des Kyrie und des Magnificat; die Solisten sind ohne Fehl und Tadel; und das Orchester begleitet, kompetent. All das geschieht aber doch ohne erkennbare Begeisterung, ohne den Schwung und die Unbekümmertheit, die doch gerade das Magnificat des Dreizehnjährigen bzw. das Kyrie des Vierzehnjährigen weit mehr prägen als wer könnte es ihm verdenken? formale Stringenz und satztechnische Ausgewogenheit. Die Glätte der Interpretation lässt hoffentlich nur unbewusst das unerträgliche Mendelssohn-Vorurteil der Problemlosigkeit weiterleben, und das angesichts von Kompositionen, deren Ecken und Kanten doch das Gegenteil näher gelegt hätten, um deren Zwiespältigkeit, aber auch deren unbestreitbare Substanz offenzulegen. Wirklich eindrucksvoll gelingt allein die weit reifere Choralmotette Mitten wir im Leben sind.
Dieser Mangel an Mut zum Risiko ist schade, da wie erwähnt die Erschließungsphase auch für Mendelssohn eigentlich als abgeschlossen zu gelten hat jetzt gälte es, etwas zu wagen, Konturen zu schärfen, Akzente zu setzen, das Ungewöhnliche hervorzuheben. Nichts ist für die Zukunft der unveröffentlichten Werke Mendelssohns auf Tonträgern und im Konzertsaal schädlicher als business as usual.
Thomas Schmidt-Beste