Ott, Karl-Heinz

Tumult und Grazie

Über Georg Friedrich Händel

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
erschienen in: das Orchester 05/2009 , Seite 65

Es ist ein Händel-Buch der besonderen Art. Karl-Heinz Ott studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft, arbeitete als Dramaturg an renommierten Theatern und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Schriftsteller. All diese Studien und Erfahrungen fließen in sein Buch ein: Es belegt große Sachkompetenz und stellt seinen Gegenstand souverän in einen breit abgesteckten geistesgeschichtlichen Rahmen, es greift auf profunde Kenntnis des modernen Musik- und Theaterlebens zurück – und es ist bei aller Komplexität der philosophischen Gedanken sehr gut lesbar und locker geschrieben.
Otts Buch besteht aus acht Kapiteln, die in einem fortlaufenden Sinnzusammenhang stehen, aber auch als für sich bestehende Einzelbetrachtungen gelesen werden können. Am Beginn steht das pointiert verfasste Kapitel „Die stinklangweilige Barockmusik“ – der Titel ist natürlich hintersinnig ironisch gemeint –, in dem Ott ein lebendiges Bild der aktuellen Alte-Musik-Szene zeichnet und sehr treffend beschreibt, warum die Barockmusik in jüngster Zeit solch breite Resonanz findet.
Es folgen fünf Kapitel, die von den zentralen Fixpunkten der Lebens- und Schaffensgeschichte Georg Friedrich Händels – Halle, Hamburg, Italien, Oper in London, Oratorium in London – ihren Ausgang nehmen. Doch statt einer Rekapitulation der greifbaren Fakten oder einer literarisch ausgeschmückten Lebensgeschichte bringt der Autor stets eingehende Re­flexionen zu Händels Leben, Werk und Zeit vor dem Hintergrund eines weiten Panoramas der Musik-, Kunst- und Geistesgeschichte von damals bis heute. Ott zitiert Quellen, Zeitgenossen und Nachgeborene, um deren Aussagen scharfsinnig zu durchleuchten und in einen musik-, kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen.
Im vorletzten Kapitel „Barock und Wirrwarr“ entfaltet Ott philosophische und geistesgeschichtliche Betrachtungen zur Barockzeit und ihrer Kunst. Eindrucksvoll ist hier unter anderem seine Verteidigung der Denkanschauungen eines Gottfried Wilhelm Leibniz oder Alexander Pope.
Hier, wie in allen anderen Teilen seines Buchs, lässt sich der Autor tief und außerordentlich belesen auf seine Fragestellung ein, bringt dadurch ungemein anregende Gedanken ins Spiel und räumt mit falschen Konventionen und Denkklischees auf. Gerade diese kritische und aufklärerische Absicht, die in dieser Sache mit Recht auch vor Ikonen der modernen Geistesgeschichte wie Adorno nicht Halt macht, öffnet mit großem Gewinn für den Leser den Blick auf ein angemessenes Verständnis der Musik Händels.
Diesem ist auch das letzte Kapitel „Pomp und Pifa“ gewidmet, in dem Karl-Heinz Ott die arkadischen und paradiesischen Züge der Musik Händel besonders hervorhebt. Auch um die Betonung der Grazie, der Welt zugewandten Sinnlichkeit der Musik Händels ist es Ott in diesem Buch wesentlich zu tun. Hier ist ihm immer wieder die pietistisch geprägte Kirchen­musik Bachs das Gegenbild.
Es ist ein überaus spannendes Händel-Buch, das dem Leser schier auf jeder Seite interessante Denkanstöße und neue Einsichten vermittelt – und das beileibe nicht nur über den vor 250 Jahren gestorbenen Komponisten.
Karl Georg Berg

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