Kreutziger-Herr, Annette / Katrin Losleben (Hg.)
History Herstory
Alternative Musikgeschichten
Das titelgebende Wortspiel funktioniert leider nur im Englischen und lässt sich nicht adäquat übersetzen: Wo bisher history erzählt wurde, fehlt die entsprechende herstory. In der Tat weist die pointierte Formulierung auf ein nach wie vor bestehendes Defizit hin. Es ist beklagenswert, dass Frauen als Sekundärgeschlecht im Bereich der Kultur und speziell der Musik nach wie vor nur unzureichend als geschichtsmächtig und historiografiewürdig wahrgenommen werden.
Dieses Defizit zu benennen, es aufzuarbeiten und danach konstruktiv ein symbolisches Haus mit neuen Räumen des kulturellen Gedächtnisses zu errichten (oder wenigstens zu planen), in dem Männer und Frauen gemeinsam wohnen können, ist das Anliegen der Beiträge in dem vorliegenden Band, die auf eine Ringvorlesung an der Hochschule für Musik Köln im Sommersemester 2007 zurückgehen. Mit der Metapher vom Hausbau strukturieren die beiden Herausgeberinnen ihre Publikation, wobei sie auf die um 1400 wirkende französische Schriftstellerin Christine de Pizan verweisen und an deren Vision einer halb als Amazonengesellschaft, halb als Gelehrtenrepublik entworfenen Stadt der Frauen erinnern.
Nicht ganz inhaltsdeckend ist der Untertitel Alternative Musikgeschichten: Nur ein Teil der Aufsätze in diesem Band löst diesen Anspruch explizit ein, indem sie sich der Musikpraxis oder wenigstens dem Sprechen über Musik zuwenden. Da geht es in bunter Folge um Hegemoniale Geschlechterordnung, Musiktheorie und Haydns Schöpfung, The Continuing Non-History of Women in Rock Music, die französischsprachige Musikgeschichte der Baronne de Bawr, um Wagners Einfluss auf Geschlechterrollen in früher Filmmusik, die mittelalterliche Trobairitz, Überlegungen zu Männlichkeit und Nationalismus im Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts oder Black Metal-Sirenen, um nur einige ausgewählte Aspekte anzusprechen.
Breiten Raum nehmen daneben in den Anfangsteilen des Bandes (Grund und Boden, Blaupausen für den Städtebau, Vom Reissbrett zum Bauen) Beschreibungen des schlechten Ist-Zustands und kulturgeschichtliche Methodik-Überlegungen ein. Der Leser sollte hier am besten mit den aktuellen Diskursen im Bereich der Soziologie, Historiografie, Literaturwissenschaft und Linguistik vertraut sein, um den Ausführungen folgen zu können und auch mit den Ideen der inzwischen recht umfangreich gewordenen Gender-Forschung, die sich seit den 1970er Jahren bemüht, die Implikationen eines nicht biologischen, sondern sozial konstruierten Geschlechts zu erschließen.
Leider huldigen viele Beiträge in diesen Anfangsteilen einer bewusst sperrigen Wissenschaftssprache (samt akademisch-umfänglichem Fußnotenapparat), die den Neugierigen außerhalb des universitären Bereichs eher abweist. Nicht alle Räume dieses Hauses wirken wohnlich und laden Ortsfremde zum Betreten ein. Ein Ausnahmefehler ist es dagegen hoffentlich, dass sich mitten im Gebäude eine tiefe Baugrube auftut: Im mir vorliegenden Rezensionsexemplar fehlen die Seiten 211 bis 226.
Gerhard Dietel