Kolbe, Corina

Aufeinander hören und voneinander lernen

Orchester gründen, Projekte initiieren – wie Claudio Abbado sich um die Jugend kümmert

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 03/2009 , Seite 39

Ein Dirigent muss manches aushalten können. Claudio Abbado stand lachend auf dem Podium, als ihn ein wilder Wolf zähnefletschend anfiel. Selbst den vorübergehenden Verlust seines Taktstocks nahm er mit Humor, während sein Freund Roberto Benigni das Publikum mit improvisierten Wortspielen unterhielt. Tausende Kinder und Erwachsene waren völlig aus dem Häuschen, als Abbado, der Komiker und das Orchestra Mozart im Oktober in einer Sportarena in Bologna Sergej Prokofjews Musikmärchen Peter und der Wolf aufführten.
Ein Teil des jungen Publikums war allerdings nicht nur zum Zuhören und Zuschauen gekommen. 623 Kinder sangen anschließend bei der Aufführung von Hector Berlioz’ Te Deum mit. Über 900 Sänger und Musiker hatte Abbado für das gigantische Projekt zusammengebracht – neben seinem Orchestra Mozart, Riccardo Mutis Orchestra Cherubini und dem Orchestra Gio­vanile Italiana von Piero Farulli wirkten zwölf Schulchöre sowie weitere Kinder- und Erwachsenenchöre mit. Auf Rängen, die sonst von Basketball-Fans besetzt werden, wuselten viele junge Sänger herum, die aufgeregt auf ihren Einsatz warteten.
Ein großes musikalisches Fest für Kinder sollte das Konzert werden, hatte sich Claudio Abbado gewünscht. Neben seinen internationalen Auftritten mit Spitzenorchestern sind ihm Nachwuchsförderung und Jugendbildungsprojekte seit langem ein großes Anliegen. Pierino e il Lupo hatte der damalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker bereits 1990 mit Benigni und dem Chamber Orchestra of Europe in Ferrara auf die Bühne gebracht und auch auf CD eingespielt. In Deutschland übernahm Schau­spie­lerin Barbara Sukowa den Erzählpart. Im englischsprachigen Raum war damals der Rocksänger Sting mit von der Partie, während die Franzosen den Chansonnier Charles Aznavour und die Spanier den Tenor José Carreras hören konnten.
Mit dem Konzert in Bologna wollte Abbado nun auch dem kümmerlichen Musikunterricht an italienischen Schulen neue Impulse geben. Unterstützung erhielt er dabei u.a. von der Regierung in Rom und regionalen Behörden. Um genügend Sänger für das Te Deum zu finden, wurde ein Wettbewerb veranstaltet, an dem sich zunächst mehr als 40 Schulchöre aus der Emilia Romagna mit Mitgliedern im Alter von sechs bis 13 Jahren beteiligten. Das Konzert sei das „Ereignis des Jahres“ in Bologna gewesen und habe auch weit über die Stadt hinaus Aufmerksamkeit geweckt, sagte die Vizepräsidentin des Orchestra Mozart, Gisella Belgeri, die für die Organisation der Jugendprojekte zuständig ist. Das Interesse sei bereits im Vorfeld enorm gewesen. „Leider hatten wir nicht die Möglichkeit, das Konzert zu wiederholen“, bedauerte sie. Obwohl weit über 4000 Plätze in der Sporthalle zur Verfügung standen, konnten die Kinder außer ihren Eltern keine weiteren Begleiter mitnehmen. „Wer weiß, wie viele Leute sonst noch gekommen wären“, meinte Belgeri.
Nicht nur die Zuhörer, sondern auch die Orchestermitglieder waren tief beeindruckt von dem intensiven Gemeinschaftsgefühl, das bei den Proben und während des Konzerts entstand. „Die Kinder waren total begeistert. Sie haben nach der Aufführung mit den Füßen getrampelt und immerzu ‚Claudio, Claudio‘ gerufen“, sagte der Stimmführer der zweiten Violinen im Orchestra Mozart, Etienne Abelin. In der Woche vor dem Konzert habe Abbado intensiv mit allen Beteiligten geprobt, vor allem um die richtige Balance zwischen Orchestern und Laienchören zu finden, berichtete er. Die Zusammenstellung des Programms fand der Schweizer sehr schlüssig. „Das spielerisch-leichte Stück von Prokofjew hat sich gut mit dem ernsten Gegenpart ergänzt“, sagte er. Dass das Te Deum in einer Sportarena und nicht in einer Kirche aufgeführt worden sei, habe wohl niemanden irritiert. Wichtig sei doch, dass die Musik alle Anwesenden unabhängig von ihrem Glauben emotional ergriffen habe.
Abbado beschreibt in seinem Buch Das klingende Haus, wie er selbst als Kind diese magische Kraft der Musik erlebte. Er erinnert sich an Kammermusikkonzerte im Haus seiner Eltern und an seinen ersten Besuch als Siebenjähriger in der Mailänder Scala, als Antonio Guarnieri die Nocturnes von Claude Debussy dirigierte. In dieser ästhetischen Erfahrung erkannte der junge Musiker später auch eine soziale und humane Dimension, die sich für ihn in den Jahren nach der Achtundsechziger-Studentenrevolte mit der Uto­pie einer neuen Gesellschaft verband. Als musikalischer Leiter der Scala öffnete er das Opernhaus in den siebziger Jahren für ein breites Publikum und trat mit dem Orchester auch vor Arbeitern in Fabriken auf. Mit seinen Weggefährten, dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Komponisten Luigi Nono, führte er in Reggio Emilia im Rahmen der Konzertreihe „Musica/Realtà“ zeitgenössische Stücke auf und diskutierte darüber mit dem Publikum.
Fragt man Abbado heute, welche Ideale von damals Wirklichkeit geworden seien, kommt er nicht nur auf das Festival Wien Modern, sondern auch auf seine Jugendorchester zu sprechen. 1978 gründete er das European Community Youth Orchestra, aus dem später das Chamber Orchestra of Europe hervorging. Neben dem Gus­tav Mahler Jugendorchester, das in den 1980er Jahren junge Musiker aus Osteuropa mit westlichen Kollegen zusammenführte, gibt es seit 1997 das Mahler Chamber Orchestra, das als Klangkörper aus renommierten Profimusikern internationale Erfolge feiert. 2004 formierte sich schließlich auf Initiative der Accademia Filarmonica in Bologna das Orchestra Mozart, in dem unter Abbados Leitung italienische Nachwuchsmusiker gemeinsam mit erfahrenen Solisten aus dem In- und Ausland spielen. Mit diesen kammermusikalisch ausgerichteten Orchestern hat der Dirigent seine Wunschvorstellung einer Gemeinschaft verwirklicht, in der das Aufeinander-hören und Voneinander-lernen hoch geschätzt wird.
Neben der musikalischen Nachwuchspflege habe das Orchestra Mozart auch eine gesellschaftliche Aufgabe, betonte Gisella Belgeri. Die Musiker besuchen unter anderem Schulen und traten auch bereits in Gefängnissen auf. Zu den öffentlichen Generalproben kommen regelmäßig viele Kinder, die zuvor von ihren Lehrern und Dozenten der Accademia Filarmonica auf die Programme vorbereitet werden.
Besonders erwähnenswert ist zudem das Musiktherapieprojekt „Tamino“, das 2006 auf Betreiben von Abbados Tochter Alessandra entstand. Mitglieder des Orchesters führen in Krankenhäusern interaktive Projekte mit Kindern durch und arbeiten dabei eng mit Ärzten, Psychologen und Pädagogen zusammen. Bei den jungen Patienten kämen die musikalischen Spiele und Rhythmusübungen gut an, erzählte Belgeri. Die Eltern sollten dabei möglichst nicht anwesend sein. Die Kinder nähmen das durchaus ernst, schmunzelte sie. „Einmal hat ein Junge seinen Vater und seine Mutter tatsächlich wieder nach draußen geschickt.“ Solche Projekte weiter auszubauen, ist eines der großen Zukunftsziele des Orchesters.

Orchestra Mozart
www.orchestramozart.com
Progetto Tamino
www.orchestramozart.com/tamino/index.htm
Mahler Chamber Orchestra
www.mahler-chamber.de
Gustav Mahler Jugendorchester
www.gmjo.at
Chamber Orchestra of Europe
www.coeurope.org
European Union Youth Orchestra
www.euyo.org.uk

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