Zimmermann, Bernd Alois

Requiem für einen jungen Dichter

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Cybele Records SACD 860.501
erschienen in: das Orchester 03/2009 , Seite 63

Bald vierzig Jahre alt, aber nicht einen Moment lang veraltet: Bernd Alois Zimmermann schrieb sein Requiem für einen jungen Dichter im Angesicht jener Zivilisation, in der er lebte und deren krisenhaften Zustand er als ungeheuerlichen Skandal empfunden haben muss. Auch wenn heute die Gefahr einer totalen nuklearen Vernichtung (vermutlich) nicht mehr so explosiv in der politischen Luft liegt wie damals – krisenhaft ist die Realität auch heute, allemal. Zimmermanns zutiefst berührende und stellenweise erschütternde Collage dokumentiert Texte aus fünfzig Jahren europäischer Geschichte. Sie spiegeln auf ganz verschiedene Art die politischen Gräuel, die in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mündeten. Fragmentarisch einmontierte Reden von Imre Nagy, Neville Chamberlain, Adolf Hitler u. a., Musikzitate von Beethoven, Messiaen und den Beatles ergeben ein überaus vielschichtiges Klangereignis von großer emotionaler Kraft.
Genau diese ist in der vorliegenden Neuaufnahme ganz unmittelbar wirksam. Wenn dreizehn Minuten nach Beginn des Werks die versammelten Stimmen der Chöre ein erstes „Requiem“ hinausschreien, geht das, ohne erst den Verstand zu befragen, direkt unter die Haut – eine Spannung, die bis zum Schluss nicht abfällt, bis zum geradezu explosiven, ja völlig verzweifelt hinausposaunten „Dona nobis pacem“. Zimmermanns Requiem, dieses Fanal für ein humanes Miteinander, verweigert irgendeine heilsgewisse Tröstung. Der (nicht nur theologische) Gedanke an Erlösung ist völlig ausgespart. Ein Werk also, an dem man sich reiben, an dem man sich abarbeiten und mit dem man sich intensiv auseinandersetzen kann.
Dazu ist diese neue Produktion ganz besonders geeignet. Weil erstens Zimmermanns Partitur einfach grandios umgesetzt wird, wofür Dirigent Bernhard Kontarsky und alle Interpreten nicht hoch genug gelobt werden können. Weil zweitens die Aufnahmetechnik ein packendes Erleben garantiert: Zimmermanns Anweisung über die räumliche Verteilung der Ausführenden wird erstmals auf CD erfahrbar – ein entsprechendes Equipment vorausgesetzt, das die SACD-Qualität wiedergibt und die Tiefen­dimensionen und den Raumklang hundertprozentig umsetzt.
Aber es ist drittens auch die vorbildliche Ausstattung dieser CD. Patrick van Deurzen schreibt einen ganz ausgezeichneten einführenden Text, der sehr ins Detail geht und den Hörer quasi „an die Hand nimmt“. Das ist durchweg sehr anschaulich und hilfreich. Außerdem bietet das Booklet auch einen „Fahrplan“ durch die gesamte Partitur, wie eine Synopse der oft parallel nebeneinander laufenden Aktionen von Sprache und Gesang (Claudia Barainsky, David Pittman-Jennings, Michael Rotschopf, Lutz Lansemann), Instrumenten und Chören. Das ist die perfekte Basis für jeden, der tief in Zimmermanns epochales Requiem hineintauchen und es begreifen möchte.
Christoph Schulte im Walde

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