Bach, Johann Sebastian

Wo Gott der Herr nicht bei uns hält

Das neu gefundene Orgelwerk: Choralfantasie BWV 1128

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Rondeau ROP6023
erschienen in: das Orchester 11/2008 , Seite 67

Gewöhnlich tauchen neue Manuskripte und Erkenntnisse zu Leben und Werk Johann Sebastian Bachs in Bach-Jubiläumsjahren auf. Dass im Frühjahr 2008 ganz ohne Anlass ein bedeutendes Orgelwerk ans Licht kam, ist deshalb eine kleine Sensation. Allerdings handelt es sich um kein bislang unbekanntes Werk, sondern um eine Bestätigung der Autorschaft Bachs; die Fantasie über den Choral Wo Gott der Herr nicht bei uns hält war bislang nur zögerlich mit Bach in Verbindung gebracht worden und deshalb im Werkverzeichnis nur im Anhang zu finden. Jetzt rückt das gut fünfminütige Orgelwerk in den Stammteil, mit der Nummer 1128. Gemessen daran, dass bis zum 300. Geburtstag Bachs im Jahr 1985 das BWV mit der Kunst der Fuge BWV 1080 geendet hatte, sind also doch bedeutende Zuwächse zu verzeichnen.
Der Choral ist eine achtstrophige Paraphrase des Psalms 124; Justus Jonas, der Dichter und Freund Martin Luthers, gehört zu den wichtigsten Reformatoren in Mitteldeutschland. Die vorliegende CD belegt die andauernde Präsenz des Liedes in den Gottesdiensten bis zur Bach-Zeit. Eine kleine Bearbeitung von Elias Nicolaus Ammerbach (1530-1597) und ein kleines Geistliches Konzert von Johann Hermann Schein (1586-1630), beide Vorgänger Bachs im Thomaskantorat, belegen dies zur Einleitung. Danach folgt das neue Stück, ein vergleichsweise virtuoses, kleinteiliges, harmonisch kühnes und kontrapunktisch fantasievoll gearbeitetes Werk aus der Feder des jungen Bach.
Die Fantasie gehört in eine Reihe anderer Stücke dieses Stils, der in der norddeutschen Orgelmusik geläufig war. Bach brachte seine Kenntnisse von den Schul- und Studienaufenthalten in Lüneburg (Johann Georg Böhm), Lübeck (Dietrich Buxtehude) und Hamburg (Johann Adam Reinken) mit; zum Vergleich trägt Ullrich Böhme im Anschluss an die neue Fantasie weitere Beispiele (Ein feste Burg ist unser Gott BWV 720, Christ lag in Todes Banden BWV 718, Wie schön leuchtet der Morgenstern BWV 739) vor. Der Thomasorganist nutzt dabei die Klangfarben der von Gerald Woehl 2000 in der Thomaskirche erbauten Bach-Orgel (bis hin zum Zimbelstern in BWV 739), zumal dieses Instrument Ähnlichkeiten mit jener Orgel aufzeigt, die Bach in Mühlhausen zur Verfügung stand. Hier sind diese Fantasien wohl auch entstanden, und die gerühmte Impulsivität des jungen Bach hätte durchaus noch mehr auf Böhmes gediegene Interpretationen durchschlagen können.
Ergänzt wird die CD von einer wohlklingenden, zweichörigen Motette und einer Choralbearbeitung (beide in älteren Aufnahmen) des Thomaskantors Wilhelm Rust (1822-1892), in dessen Nachlass die Bach’sche Fantasie gefunden und von der Universität Halle nun ersteigert wurde. Dazu erklingt die Choralkantate über Justus Jonas’ Lied, die Bach zum 8. Sonntag nach Trinitatis 1724 komponierte – ein weiterer Beweis für die seinerzeitige Aktualität und Beliebtheit dieses Liedes in Leipzig. Die Kräfte der Thomaskirche musizieren auf bewährtem Niveau; unbedingt lesenswert zu dieser schönen, themengebundenen CD ist auch der Einführungstext von Martin Petzoldt.
Andreas Bomba

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