Sacks, Oliver

Der einarmige Pianist

Über Musik und das Gehirn

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt, Hamburg 2008
erschienen in: das Orchester 11/2008 , Seite 59

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte: Mit diesem Buch ist der amerikanische Neurologe Oliver Sacks einst berühmt geworden.
In populärwissenschaftlich dargestellten Fallgeschichten berichtete er von Persönlichkeitsstörungen, die aufgrund von Ausfällen im Gehirn auftraten. Es war für jenen titelgebenden Patienten die Musik, welche ihm half, den Alltag zu bewältigen, im Gegenzug wurde seine Fallstudie wiederum von Musikern kreativ aufgegriffen: in Michael Nymans 1986 entstandener gleichnamiger Opernfassung des Stoffs.
Dieser Fall und ein weiterer, die Geschichte vom „wandelnden Opern-Lexikon“ (durch Thomas Bartel im Jahr 2005 ebenfalls musiktheatralisch umgesetzt), haben Sacks offenbar zu seinem neuesten Buch inspiriert, in dem er „über Musik und das Gehirn“ nachdenkt: Musicophilia lautet dessen treffenderer Originaltitel, im Deutschen ist daraus das weit weniger aussagekräftige, auf ein Randkapitel verweisende Der einarmige Pianist geworden.
Nach bekannter Art spürt Sacks pathologischen Effekten nach: Hörbeeinträchtigungen oder Sonderformen der Amusie, die nach Schlaganfällen auftreten, kommen zur Sprache, die Rolle der Musik bei epileptischen Anfällen wird betrachtet, von Menschen mit Tourette-Syndrom, von Inselbegabungen und von spektakulären Einzelfällen wird berichtet: etwa von jenem bis dato völlig an Musik Desinteressierten, der einen Blitzschlag überlebte und danach zum begeisterten Pianisten wurde – hatte der Schock das Hirn des Betroffenen neu geformt?
Auch die heilende oder lindernde Kraft der Musiktherapie im Bereich von Bewegungsstörungen und Demenzerkrankungen nimmt Sacks in den Blick und verlässt schließlich den Bereich des Pathologischen. Was überhaupt ist Musikalität? So fragt er in anderen Abschnitten des Buchs, und: Wie funktioniert das musikalische Vorstellungsvermögen im Kopf? Was passiert, wenn uns Ohrwurm-Melodien tagelang verfolgen und gleichsam von einem inneren CD-Player permanent abgespielt werden? Und warum arbeitet das Hirn bei manchen Menschen „absolut“ oder bei anderen synästhetisch, sodass Ton- und Farbempfindungen unmittelbar gekoppelt sind?
Nicht alles lässt sich erklären, doch hat die moderne Hirnforschung, wie Sacks berichten kann, gerade in den letzten Jahren Methoden entwickelt, welche die physikalischen Grundlagen unseres Denkens und Empfindens genauer messen und darstellen können als je zuvor. Wer Sacks in den fachspezifischen Passagen des Buchs detaillierter folgen will, tut als neurologischer und medizinischer Laie freilich gut daran, bei der Lektüre ein Nachschlagewerk zur Hand zu haben; man vermisst als Leser ein Glossar am Ende des Bands, das in dieser Hinsicht Unterstützung hätte bieten können.
Gerhard Dietel

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