Mertens, Gerald

Am Anfang war die Musik

Die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die deutsche Orchester- und Musikkultur

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 11/2008 , Seite 26
"Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Musik." So kurz und bündig könnte man in leichter Abwandlung der Einleitungssätze des Johannesevangeliums das historische Verhältnis des Rundfunks zu seinen Klangkörpern zusammenfassen. Der geschichtliche Rückblick auf die Entwicklung des deutschen Rundfunks und seiner Klangkörper vermittelt einen intensiven Eindruck von seiner besonderen Bedeutung für die Musikkultur – bis in unsere Zeit.

Erste Gründungswelle
Der 29. Oktober 1923, acht Uhr abends, wird allgemein als die Geburtsstunde des wohl ältesten deutschen Rundfunkklangkörpers beschrieben. An diesem Tag übertrug die Radio-Stunde AG, Sendestelle Berlin, erstmals live ein Konzert und gab damit den entscheidenden Anstoß für die Gründung eines sinfonischen Rundfunkorchesters, in diesem Falle des heutigen Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). In den – anfänglich noch überschaubaren – täglichen Sendezeiten wechselten sich Livedarbietungen mit dem Abspielen von Schellackplatten ab. Mit Ausweitung des Sendebetriebs wurde jedoch sehr bald der Bedarf an verfügbarem Musikrepertoire immer größer.
Die Aufnahme des Sendebetriebs durch weitere regionale Rundfunkanbieter seit dem Frühjahr 1924, so z.B. die Mitteldeutsche Rundfunk AG (MIRAG), Leipzig, die Deutsche Stunde in Bayern GmbH, München, die Südwestdeutscher Rundfunkdienst AG, Frankfurt/Main, die Nordische Rundfunk AG, Hamburg, Süddeutsche Rundfunk AG, Stuttgart usw., beförderte in der Folgezeit die erste Gründungs- bzw. Übernahmewelle von eigenen Rundfunkklangkörpern in Deutschland. Die Wurzeln des heutigen MDR Sinfonieorchesters Leipzig reichen sogar bis in das Jahr 1915 zurück. Ursprünglich als „Orchester des Konzertvereins“ in Leipzig gegründet, wurde es 1924 durch die MIRAG als Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig übernommen. Ähnlich war es auch beim heutigen hr-Sinfonieorchester, welches 1929 von der Stadt Frankfurt/Main noch als „Frankfurter Sinfonie-Orchester“ unter dem Dirigenten Hans Rosbaud firmierte und dann für den täglichen Sendebetrieb übernommen wurde. Doch nicht nur Orchester, sondern auch eigene Chöre wurden gegründet. Der Berliner Funk-Chor, heute Rundfunkchor Berlin, entstand ebenfalls bereits im Frühjahr 1925.
Von Anfang an mussten die Rundfunkorchestermusiker und -chormitglieder ein sehr breites und täglich wechselndes Repertoire auf technisch hohem Niveau beherrschen, da nach extrem kurzer Proben- und Vorbereitungszeit immer live übertragen wurde. Konzerte mit Musik aller Epochen, konzertante Opern, Operetten, Oratorien, die Begleitung von Gesangs- und Instrumentalsolisten, Kammermusik, aber auch Hörspielmusiken gehörten zum selbstverständlichen Aufgabengebiet dieser spezifischen rundfunkeigenen Klangkörper. Geeignete Sendesäle, Orchester- und Chorräume, eigene Notenarchive wurden geschaffen.
Auch die Verbreitung zeitgenössischer Musik ist mit der Entwicklung der Rundfunkklangkörper untrennbar verbunden. Die Listen der Archivaufnahmen vieler Rundfunkorchester der 1920er und 1930er Jahre bis in die Neuzeit lesen sich wie das Who’s Who einer ganzen Komponistengeneration. Vor allem traten Komponisten als Dirigenten eigener Werke auf. Nur als Beispiel mag wiederum das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin dienen: Igor Strawinsky, Hans Pfitzner, Richard Strauss, Werner Egk und viele andere erhielten Gelegenheit, ihre Kompositionen einzustudieren und zur (Ur-)Aufführung zu bringen. 1931 zählte man im gesamten Deutschen Reich zehn Rundfunkorchester unterschiedlicher Größe und sieben Chöre.

„Drittes Reich“
Wenige Tage nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Rundfunk am 15. Februar 1933 durch Erlass des Reichskanzlers Adolf Hitler dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt, welches unter der Leitung von Joseph Goebbels stand. Dies hatte auch für die Musikproduktion der Rundfunkklangkörper im ganzen Deutschen Reich tief greifende Folgen. Komponisten und Werke des „nationalen Erbes“ von Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner und Wagner standen im Mittelpunkt. Die Musik „entarteter“ und verfemter Komponisten wurde aus dem Spiel- und Sendebetrieb verbannt. Die Rundfunkklangkörper spielten eine überaus wichtige Rolle in propagandistisch aufgezogenen Beethoven- und Bruckner-Zyklen sowie bei musikalischen Monumentalsendungen. Die nationalsozialistische Ideologie hatte rasch erkannt, wie sie auch die sinfonische Musik deutscher Komponisten im Rundfunk für ihre Zwecke einsetzen konnte. Besonders selektierte Musik ausländischer Komponisten wurde nur noch als Alibi der Weltoffenheit gespielt und produziert.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs stieg auch die Produktion und der Einsatz von gehobener Unterhaltungs- und Tanzmusik in „bunten Abenden“, Wunschkonzerten, Volksmusiksendungen usw. Während die kriegsbedingt verfügte Schließung aller öffentlichen Theater zum 1. September 1944 das Musikleben faktisch zum Erliegen und viele der verbliebenen Musiker der Opern- und Sinfonieorchester zum Kriegseinsatz brachte, produzierten die Rundfunkklangkörper bis zum Schluss weiter. Nur so ist es zu erklären, dass bereits zehn Tage nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 18. Mai 1945 Beethovens neunte Symphonie durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Großen Sendesaal an der Masurenallee aufgeführt werden konnte. Auch der Neuanfang des Rundfunks nach dem Krieg war also wiederum vor allem geprägt durch Musik.

Zweite Gründungswelle
Die Dezentralisierung und der Wiederaufbau demokratischer Rundfunkstrukturen durch die Militärverwaltungen der Alliierten führte in allen vier Besatzungszonen und in Berlin zu einer zweiten, flächendeckenden Gründungswelle und Restrukturierung von Rundfunkklangkörpern, so beispielsweise am 15. November 1946 mit der Bildung des „RIAS-Symphonie-Orchesters“ (heute Deutsches Symphonie-Orchester, Berlin). Weitere Klangkörper entstanden am Sitz der jeweiligen neuen Rundfunkanstalten und Sender, so u.a. in Köln, Stuttgart, Freiburg, Baden-Baden, Kaiserslautern. Der große Bedarf an Tanz- und Unterhaltungsmusik in der Nachkriegszeit führte auch zur Gründung bzw. Übernahme von Bigbands sowie zur weiteren Ausdifferenzierung zwischen den großen Sinfonieorchestern und den Rundfunk-(Unterhaltungs-)orchestern.
Ihr Auftrag lag unverändert in der Füllung des täglichen Programms, wozu die Schallplattenindustrie zu jener Zeit noch nicht in der Lage war, im Aufbau und in der Aufarbeitung der in der Nazizeit zerschlagenen Musikkultur und in der Förderung von Neuer Musik. Die Weiterentwicklungen der Aufnahmetechnik und der Konservierung von Musikaufnahmen führten seit den 1950er Jahren auch zu Veränderungen im Arbeitsalltag der Rundfunkklangkörper. Immer mehr Werke wurden bei reinen Studioproduktionen für den späteren Einsatz im Programm erarbeitet und begannen die Archive zu füllen. Im Durchschnitt einer Saison eines Rundfunk-Sinfonieorchesters wurde nur noch etwa ein Drittel aller gespielten Werke in öffentlichen Sinfoniekonzerten aufgeführt, übertragen oder mitgeschnitten, so deutlich überwogen die Studioproduktionen.
Nach den Jahren der nationalsozialistischen Gängelung, Unterdrückung und Verdrängung der Neuen und zeitgenössischen Musik erlebte diese parallel mit dem Aufbau der Rundfunkklangkörper einen großen Aufschwung. Dem Erziehungs- und Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks folgend fällt der Blick in die Konzertprogramme und Produktionslisten – vor allem der Rundfunk-Sinfonieorchester seit Ende der 1940er Jahre – auf zahlreiche Uraufführungen, deutsche Erstaufführungen und Ersteinspielungen. Namen wie Hindemith, Honegger, Skrjabin, Milhaud, Henze, Hartmann, Toch, Zimmermann u.v.a. tauchen hier regelmäßig auf. Aber auch die Entwicklung des Komponisten Karlheinz Stockhausen hätte ohne das Engagement des Rundfunks so nicht stattgefunden. In der Nachkriegszeit trug Stockhausen als Leiter des elektronischen Studios des WDR über zwanzig Jahre lang wesentlich dazu bei, Köln zu einem bedeutenden Zentrum der Neuen Musik aufzubauen. Viele Kompositionsprinzipien, die Stockhausen entwickelte, waren bahnbrechend und stilbildend für die folgenden Komponistengenerationen. Über die Jahrzehnte haben das WDR Sinfonieorchester Köln und der WDR Rundfunkchor Köln mehrere Werke von Stockhausen uraufgeführt, die der WDR als Kompositionsauftrag an ihn vergeben hatte.

Nach der deutschen Wiedervereinigung und Gegenwart
Nach den zwei Gründungswellen von Rundfunkklangkörpern im Anschluss an die beiden Weltkriege kam es im unmittelbaren Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung seit 1990 zu gravierenden Einschnitten, Strukturveränderungen und Abwicklungen. Vor allen Dingen die Klangkörper an den Standorten des Rundfunks der DDR in Ost-Berlin und Leipzig sowie des RIAS in West-Berlin waren davon betroffen. Aber auch die Klangkörper der alten Bundesländer blieben nicht gänzlich verschont. 1992/93 fusionierten aus Kostenerwägungen in Frankfurt das Sinfonieorchester und das Rundfunkorchester des Hessischen Rundfunks; 2007 wurde das Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks, Saarbrücken, mit dem SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern zur „Deutschen Radiophilharmonie“ zusammengelegt. Bei den Chören mussten vor allen Dingen das SWR-Vokalensemble Stuttgart und der Hamburger NDR-Chor Stellenstreichungen hinnehmen. Der im Jahr 2004 entwickelte Plan des Bayerischen Rundfunks, sein beliebtes und durch neue Programmideen, vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit, profiliertes Münchner Rundfunkorchester aufzulösen, scheiterte am großen Widerstand von Politik und Öffentlichkeit.
Aktuell arbeiten in Deutschland bei den Rundfunkanstalten der ARD und in der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin 13 Sinfonie- und Rundfunkorchester, sieben Chöre und vier Bigbands. Die Arbeitsweise der Klangkörper hat sich in den vergangenen Jahren erneut deutlich verändert: Die Musikproduktion im Studio ist deutlich in den Hintergrund getreten, die Archive mit eigenen Aufnahmen vergangener Jahrzehnte sind gut gefüllt und stehen in der täglichen Nutzung in Konkurrenz mit der Sendung digitaler kommerzieller Tonträger von Orchestern und Ensembles aus aller Welt. Dennoch sind die deutschen Rundfunkklangkörper unverzichtbar: Sie sind Botschafter ihrer Anstalt und der dahinter stehenden Länder und Rechtsträger. Durch ihre Auftrittstätigkeit in Konzerten im Sendegebiet, national und international, sowie Liveübertragungen und Sendungen von Livemitschnitten sind sie zu einem wesentlichen Kulturfaktor in Deutschland, aber auch darüber hinaus geworden.
Mittlerweile scheint sich die strukturpolitische Situation für alle Klangkörper deutlich stabilisiert zu haben; das ARD Jahrbuch 2007 widmet den Klangkörpern und der eigenen Musikproduktion einen Schwerpunkt. Durch die Gebühren-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestärkt, haben die Verantwortlichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks offenbar erkannt, dass sowohl in der Diskussion mit der Europäischen Kommission in Brüssel als auch mit den Ministerpräsidenten der Länder der Betrieb eigener Klangkörper und die eigene Musikproduktion ein gewichtiges Argument für die Aufrechterhaltung der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Gebühren ist. Wo kommunale und staatliche Orchester bei ihrer teilweise risikolosen Programmpolitik verstärkt auch an die Erhöhung von Eigeneinnahmen denken, genießt der Rundfunk unverändert das Privileg, aufgrund seiner Gebührenfinanzierung eben nicht zwanghaft auf die Quote schielen zu müssen, sondern im Rahmen der Musikproduktion mit eigenen Klangkörpern gerade auch das randständige, zeitgenössische oder vergessene Repertoire zu berücksichtigen und zu fördern. Die Donaueschinger Musiktage, die Wittener Tage für neue Kammermusik, „Das alte Werk“ und viele andere Reihen und Festivals in ganz Deutschland sind ohne den Einsatz der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und ihrer Klangkörper nicht vorstellbar. Diesen kulturellen Reichtum gilt es zu bewahren.

2 thoughts on “Am Anfang war die Musik

Kommentare sind geschlossen.

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support