Rihm, Wolfgang

Dis-Kontur / Lichtzwang / Sub-Kontur

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classic CD 93.202
erschienen in: das Orchester 10/2008 , Seite 63

Es wäre die perfekte Musik zu Filmen Andrej Tarkowskijs – Musik zu Bildern von Fabrikruinen im Niemandsland von Industriewüsten: rostig und brachial. So klingt Dis-Kontur, eines der zentralen Werke, mit denen 1974 der damals 22-jährige Wolfgang Rihm das avantgardistische Establishment aufschreckte. Eine rohe, mit knallend-hämmernden Schlägen beginnende Musik, die in düsterem Klangkolorit weit zerklüftet sich zu einem hybriden, rhythmisierten Klangklumpen auswächst, der an den Marsch aus Alban Bergs Drei Orchesterstücken op. 6 erinnert. Zuletzt schrumpft der rohe Klangkorpus wieder, um in letzten schussartigen Trommelschlägen zu enden. Edgard Varèses bruitistischer Orchester-
Kosmos lebt hier in einer Retro-Gestalt weiter, die der einstigen mechanischen und technoiden Feier pathologische Aspekte der unmittelbaren Gewalt abringt.
Das Stück ist 27 Jahre nach seiner Uraufführung in Stuttgart unter Michael Gielen vom SWR Sinfonieorchester mit Sylvain Cambreling als Dirigenten neu eingespielt worden: extrem gespreizt in den Klang-Volumina, sehr plastisch in der Proportionierung. Cambrelings Vermittlung des heillosen Ausdrucks, der gerade in seiner Disparatheit besonders sprachgewaltig ist, wird dabei sehr gut getroffen.
Von wesentlich kontinuierlicherer Faktur ist Lichtzwang – Musik für Violine und Orchester, am 4. März 1977 in Royan durch das SWF-Sinfonieorchester unter Ernest Bour mit dem Geiger János Négyesy uraufgeführt. Lichtzwang ist ein vom Komponisten als „imaginäre Totenrede“ auf Paul Celan bezeichnetes Violinkonzert. Natürlich denkt man gleich an Alban Bergs Violinkonzert, „dem Andenken eines Engels“ – Manon Gro­pius – gewidmet. Und tatsächlich ist die Kontur der Solo-Stimme, die János Négyesy mit einem auch in den heftigeren Partien immer wunderbar sublimen und reinen Ton spielt, streckenweise höchst bergisch geraten. Besonders eine dem berühmten Bach-Choral analoge Partie bei Rihm, die allerdings nicht frei von Sentimentalität ist, fällt auf. Rihms espressive Hemmungslosigkeit wirkt da manchmal unempfindlich für die Gefahr von Klischees.
Auf Dis-Kontur, das zwischen April und Oktober 1974 entstand, folgte auf dem Fuße Sub-Kontur, das im Mai 1975 abgeschlossen wurde. Als letztes Werk dieser Reihe ist noch Kontra-Kontur entstanden. Auf der vorliegenden CD ist von der Kontur-Trilogie noch Sub-Kontur vertreten, ebenfalls in einer Vorabproduktion zur Uraufführung, die mit den damaligen Akteuren SWF-Sinfonieorchester und Ernest Bour entstand. Wieder beeindruckt Rihms sprachmächtige, angreifende wie begreifbare Musik. Und wieder ist das SWR Sinfonieorchester das Referenz bietende orchestrale Medium.
Bernhard Uske

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support