Luisi, Fabio

Erst der halbe Weg

aufgezeichnet von Walter Dobner

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Wien 2008
erschienen in: das Orchester 10/2008 , Seite 58

Dass Künstler – wie zum Beispiel berühmte Dirigenten – ihre Autobiografien verfassen, ist nichts Neues; dass sie diese oftmals verfassen lassen, auch nicht. Ungewöhnlich hingegen ist, wenn ein noch nicht einmal 50-jähriger Maestro seine Erinnerungen „aufzeichnen“ und unter dem auffallenden Titel Erst der halbe Weg veröffentlichen lässt. Aber vielleicht muss man so etwas tun, wenn man wie Fabio Luisi in die Elite europäischer Generalmusikdirektoren aufgestiegen ist.
Was man in inhaltlicher Hinsicht von dem mit Fotografien versehenen Buch geboten bekommt? Eine fast unübersehbare Abfolge von Opernhäusern, Symphonieorchestern, Sängerinnen und Sängern, Engagements, Gastspielen, Premierendaten und (Chef-)Positionen. Einen stetig steilen Aufstieg eines Dirigenten aus Genua, über die Ausbildungs- und Zwischenstation Graz, hinein in die europäischen, amerikanischen und japanischen Metropolen. Erfolgskurs durchweg – allein die Querelen um die GMD-Position an der Deutschen Oper Berlin bilden eine Art Missklang in einer linear-harmonisch aufgezeichneten Lebenspartitur.
Und so ist das Buch vor allem eines: Zeugnis einer global ausgerichteten und vernetzt agierenden professionellen Zunft namens General(musik­)­Direktor, die den Lebenslauf eines Zunftangehörigen zu einem Reisetagebuch transformiert. Die unzähligen besuchten Orte von München bis Genf, von Wien bis Paris scheinen fast austauschbar; sie gliedern sich eher nach virtuellen Ranking-Listen. Unter solchen Perspektiven gerät die Sache selbst, nämlich die Musik, unfreiwillig fast zur Nebensache. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Luisis Autobiografie kaum Überlegungen zur Kunst des Dirigierens enthält; auch keine Reflexionen über musikalisch-historische Kontexte oder zu den Bedingungen des Musikmarkts.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich Luisis Autobiografie von der eines Michael Gielen. Was dem Text des Italieners ein wenig fehlt, sind jene inhaltsschweren Pausen, wie sie in Schuberts Partituren vorkommen. Sogar die in dem Buch erwähnten beiden Todesfälle von Musikerkollegen werden sogleich vom vorwärtsdrängenden Schreibstilstaccato überrollt.
So ergibt sich ein (von privaten Aspekten weitgehend absehendes) Curriculum Vitae, das, fixiert auf die Abfolge der beruflichen Stationen, zu einem formalen Schema gerinnt, welches, überspitzt formuliert, fast ebenso gut einem Fußballstar übergestülpt werden könnte. Nur, dass die Markennamen wie etwa Dresdner Staatskapelle durch Real Madrid auszutauschen wären.
Insgesamt hinterlässt das Musikerbuch über einen halben Lebensweg (der seine Fortsetzung wohl auf den Podien der Berliner und Londoner Spitzenorchester erfahren dürfte) einen ambivalenten Leseeindruck: Die vorliegende Lebenspartitur ist anders komponiert als eine Partitur über das Leben.
Winfried Rösler

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