Norrington. The Romantics

Interviews, Rehearsals, Documentaries, Concerts. Ways to Wagner, Tschaikowsky, Berlioz

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Hänssler Classic DVD 93.901
erschienen in: das Orchester 06/2008 , Seite 68

Der englische Dirigent und Alte-Musik-Spezialist Roger Norrington hat sich in den vergangenen Jahren als findiger Neudeuter des romantischen Repertoires erwiesen. Auch als Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR führte er seinen Ansatz weiter, die Musik des 19. Jahrhunderts aus der Zeit heraus zu verstehen und zu interpretieren. Dabei stehen vor allem Tempofragen und die Spieltechnik (Vibrato bei Streichern, Bläserklang) im Vordergrund seines Interesses. Die bei Hänssler veröffentlichte DVD enthält drei vom SWR produzierte Filme, die in ihrer Mischung aus Dokumentation, Probenmitschnitt und Konzertaufführung einen faszinierenden Einblick in die Welt der jeweiligen Stücke geben.
Der älteste Film ist Wege zu Wagner (1999, 58 Min.). Darin erklärt Norrington, Wagners Meistersinger-Vorspiel werde meist viel zu langsam gespielt. Es sei ein zügiger Marsch, der viel vom Geist der Barockmusik habe. Das Ergebnis ist eine lebendig und durchsichtig gespielte Musik.
Seinen Ansatz belegt er auch anhand der Originalpartitur Wagners und der Schrift „Über das Dirigieren“ (1869). Ebenso neuartig ist Norringtons Interpretation des Tristan-Vorspiels im walzerartigen 6/8-Takt. Als Beweis für diese Sicht führt der Dirigent u.a. die „Liebesszene“ aus Berlioz’ Romeo et Juliette an. Wagner, so Norrington, sei der Musik vieler Komponistenkollegen sehr nah gewesen. Erst später wurde er zum Einzelgänger verklärt. Seine Musik sei weniger germanisch schwer als vielmehr klassizistisch leicht, erläutert Norrington vor Wagners Villa in Bayreuth und weist auf einzelne Bauelemente des Hauses.
Der längste Film der DVD ist Im Angesicht des Todes: Tschaikowskys Pathétique (2004, 82 Min.). Auch darin fließen Probenauszüge, Interviews, historische Dokumentation und Aufführung sinnvoll ineinander. Vielleicht hätte man die sechste Symphonie lediglich in einem Stück ans Ende setzen sollen. Norringtons Ausführungen über einzelne Sätze folgt stets deren separate Darbietung. Das macht zwar Sinn im Hinblick auf das zuvor Erläuterte, doch zerstört es das Werkganze. Auch hier führt der Dirigent ebenso kritisch wie fantasievoll ins Werk ein. Regisseur Barrie Gavin fängt die Probensituation und einzelne Orchestermitglieder und Gruppen wunderbar ein. Erstaunlich ist wiederum Norringtons frische Sicht auf das bekannte Werk. Auch bei Tschaikowsky entdeckt er mehr Klarheit als effekthascherische Ausdrucksmusik. Und für das absteigende zweite Thema des Schlusssatzes fügt er gar Händels populäre Arie „Ombra mai fu“ an. Natürlich vor dem Hintergrund, dieser Stelle ihre schlichte Würde zurückzugeben.
Mit einem Film über Proben und Aufführung von Berlioz’ Ouvertüre Le Corsaire (2003, 55 Min.) wird diese gelungene DVD abgerundet, die Roger Norringtons engagierte und unterhaltsame Arbeit mit dem Orchester ebenso dokumentiert wie seine spannende Sicht auf die musikalische Romantik.
Matthias Corvin

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support