Kriwaczek, Rohan
Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine
Wer kennt sie noch, die einst hoch geschätzte Trauerviolinmusik? Wer erinnert sich an die Instrumente der Trauerviolinisten mit dem geschnitzten Totenkopf und wer weiß noch etwas anzufangen mit Namen wie Hieronymus Gratchenfleiß oder Bulstrode Whycherley? Der Brite Rohan Kriwaczek hat sich aufgemacht, um die hohe Kunst der Trauerviolinmusik dem Vergessen zu entreißen, diese einzigartige Verbindung von Darstellung, Ritual und spirituellem Ausdruck, die im 19. Jahrhundert einer Säuberungsaktion der katholischen Kirche zum Opfer fiel.
Kriwaczek, seines Zeichens Präsident der Zunft der Trauerviolinisten, hat geforscht und recherchiert, Archive durchstöbert und die Lebensläufe der berühmtesten Trauerviolinisten rekonstruiert. Jenen des Herrn Gratchenfleiß etwa, zu seiner Zeit berühmt wie Paganini, Heifetz und Menuhin, der die stoische Disziplin und Schlichtheit von Spätrenaissance und Frühbarock mit der Romanik wie auch der Kraft des Sturm und Drang verband. Oder jenen Wilhelm Kleinbachs, des letzten praktizierenden Trauerviolinisten, der noch im 20. Jahrhundert im Geheimen weitermusizierte.
Eine vergessene Kunstform also, angesiedelt in einer spirituellen Grauzone, eine musikalische Tradition, die das Verhältnis des Menschen zu seiner eigenen Sterblichkeit auslotet
Wer das für zu schön hält, um wahr zu sein, liegt genau richtig. So wunderbar die Vorstellung einer noch unerforschten Musikrichtung auch sein mag: Die Trauerviolinmusik bietet eifrigen Musiktheoretikern kein neues Betätigungsfeld, ist sie doch eine Erfindung von Rohan Kriwaczek. Eine gut gemachte Erfindung allerdings. Der Musiker und Komponist entwirft für die Begräbnis-Violine einen ziemlich stringenten historischen Rahmen. Er erzählt von den Anfängen vor rund 10000 Jahren, vom Siegeszug der Trauermusik im späten Mittelalter und der Neuzeit und von der großen Säuberungsaktion des Vatikans. Von Trauerzweikämpfen weiß Kriwaczek zu berichten, bei denen zwei Violinisten über ein Thema improvisierten, das der Verstorbene hinterlegt hatte es gewann der Künstler, welcher der versammelten Menge mehr Tränen entlockte , oder vom Trauerviolinisten Jonathan Heddlestone, der möglicherweise seinen Rivalen Henry Purcell vergiften ließ. Nur mitunter wird der Leser stutzig, etwa wenn Kriwaczek seinen Herrn Gratchenfleiß im Wolfsburg des Jahres 1736 zur Welt kommen lässt, obwohl die Stadt erst 1938 gegründet wurde und 1945 ihren heutigen Namen erhielt.
Sogar Musikbeispiele aus den erhalten gebliebenen und bisher entdeckten Partituren hat Kriwaczek beigefügt, zur Illustration der Trauermusik, die gleichzeitig nach innen und nach außen schaut: Dargestellt wird sowohl die Tragödie einer für diese Welt auf immer verlorenen Seele als auch der triumphale Aufstieg der Seele in die Ewigkeit des Jenseits. Ein bisschen makaber ist dieser Streifzug durch eine fiktive Musikwelt, aber gleichzeitig äußerst unterhaltend eben ein musikalischer Spaß nach bester britischer Art.
Irene Binal


