Bartók, Béla
The Piano Concertos
Das Faszinierende an der Musik ist, daß sie die Dinge verändert. Ich wünschte, die Zuhörer würden sich darüber freuen, daß es auf ihrer Welt immer wieder neue Musik gibt. Man kann nicht einteilen in Klassische Musik und Moderne Musik; es gibt einfach nur Musik
, schrieb Pierre Boulez in seinem Essayband Anhaltspunkte.
Veröffentlicht wurde dieses Kompendium 1966 in Paris. 1975 erschien es deutscher Übersetzung. Es steht zu vermuten, dass Boulez in den neun Jahren, die zwischen den beiden Ausgaben liegen, manche der hier formulierten musikästhetischen Thesen bereits revidiert hatte. Denn Boulez ist als Komponist und Dirigent stets unbeirrt seinen Weg gegangen, Irrtümer und frappierende Neuentdeckungen inbegriffen.
Der Musikwissenschaftler und Publizist Ulrich Dibelius hat Boulez denn auch als einen Komponisten beschrieben, der sich zu Beginn der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts strikt weigerte, Reihen zu zählen oder die Werke Weberns zu vermessen hinsichtlich ihrer Intervallproportionen, Tonanzahlen, Gruppenformen, Pausenwerte, Einsatzabstände, Artikulationsarten und sonstigen als Parameter tauglichen Phänomenen. Den von der französischen Tradition Unbelasteten habe vielmehr das Verfahren Debussys und Weberns interessiert, aus der materialen Schicht heraus Gestalt und Klang zu entwickeln. Musiksprachliche Organismen, in jedem Detail und jedem Übergang präzise zu formulieren sei für Boulez wichtiger, als die Gesetze von Modellen nachzubeten. Die Quintessenz dieser Haltung formulierte Boulez in einem Satz: Man muss seine Revolution nicht nur konstruieren, sondern auch träumen.
Im März dieses Jahres ist der träumerische Klang-Konstrukteur 80 Jahre alt geworden. Seiner Maxime ist er treu geblieben, auch seinem aparten Esprit, der wiederum das Ergebnis unbedingter Präzision ist. Die gebetsmühlenhaft wiederholte Schelte, er arbeite ausschließlich strukturell orientiert, sei nur sachlich, gefühlskalt ja lieblos beim Dirigieren, wird ihn sicherlich be-rührt, möglicherweise auch verletzt haben. Doch mit der ihm eigenen Souveränität und wohl auch Altersweisheit kontert er diese ewig repetierten Sticheleien mit dem Verweis auf die Geschichtstaubheit dieser Kritiker. Über sie sagte er in einem Interview: Sie hören nicht, was ich tue, sie hören meine Geschichte. Wenn sie ihre Ohren nur von all dem zähen historischen Kleister befreien wollten, sie kämen in den Genuss von Interpretationen, die ihren Platz im Hier und Jetzt haben, erfüllt von Respekt gegenüber der abendländischen Musiktradition. Boulez kennt das progressive Element von Geschichte bestens aus eigener Erfahrung. Werke wie Pli selon pli hat er mehr als vier Jahrzehnte lang immer wieder umgearbeitet. So ist sein Werkkatalog überschaubar. Manches darin allerdings wie Le marteau sans maître verblieb in seiner die moderne Musikgeschichte erschütternden Urgestalt. Dass Boulez gerade mit diesem Werk noch immer nicht fertig ist, lässt sich daran ablesen, wie sehr es ihn als Dirigent immer noch umtreibt. So berichtet die vorliegende Aufnahme aus dem Jahr 2002 mit dem
Ensemble Intercontemporain und der Mezzosopranistin Hillary Summers darüber, wie liebevoll akribisch Boulez die klangliche Feinmechanik dieses Jahrhundertwerks weiter untersucht, um herauszufinden, wo es mehr, wo es weniger klangliche Reibung braucht, wie die Klangvaleurs noch feiner zu gewichten sind.
Boulez dirigiert das Herzstück seines kompositorischen uvres aus der Retrospektive, von der Position ausgehend, in welcher er Dérive 1 (1984) und Dérive 2 (1988/2002) geschrieben hat. Dem einen Werk liegt ein Sechstonakkord zugrunde, der aus dem Namen Paul Sacher abgeleitet ist, dem anderen ist die kompositorische Analyse der Periodizität eingeschrieben. Wie immer nutzt Boulez das technische Skelett lediglich als Träger für den poetischen Zauber der Klänge. Nie ist etwas vom Schmutz der Ungenauigkeit überzogen, in diesen irgendwie doch affektiv gesteuerten Labyrinthen.
Dem Paradox des analytisch gefundenen Affekts in Boulez Musik ist auch der finnische Pianist Paavali Jumppanen mit unvergleichlicher Technik der Hände wie des Geistes auf den Fersen. Jumppanen spielt die drei Klaviersonaten als Antwort auf Mahler, Schönberg und Webern. Jene, die behaupten, Boulez sei das Espressivo, vor allem die Ekstase fremd, werden hier eines Besseren belehrt.
Weil Boulez sich stets fragt, wie ein Instrumentalist einen einzelnen Ton auf intelligente Weise spielen kann, so daß er in Beziehung steht zu dem, der vorangegangen ist und dem, der folgt, klingen die Mahler-Lieder (mit den Wiener Philharmonikern, Thomas Quasthoff, Violeta Urmana und Anne Sofie von Otter) so heiß-silbern und Bartóks Klavierkonzerte so, als würde in
ihnen die Melodie nochmals aus dem Rhythmus geboren werden. Die Romantiker würden von feinster Empfindung sprechen. Sie sind wohl die wahren Geistesverwandten des träumenden Klang-Konstrukteurs Boulez.
Annette Eckerle