Borchard, Beatrix
Stimme und Geige
Amalie und Joseph Joachim, Biographie und Interpretationsgeschichte
Die musicalische Welt weiss, was sie an ihm hat. So urteilte ein Kritiker 1869 über den Violinisten Joseph Joachim. Aber nicht nur seinen Lebenslauf hat sich die Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard vorgenommen, sondern auch und vor allem jenen seiner Frau: Amalie Joachim war im 19. Jahrhundert eine geschätzte Sängerin. Im Gegensatz zu Joseph Joachim ist ihr Stern jedoch verblasst; kaum jemand erinnert sich heute noch an die Altistin, die nach ihrer Hochzeit den Konzertgesang zu einer neuen Blüte führte.
Anhand von Briefen, Konzertprogrammen und Kritiken zeichnet Beatrix Borchard die Biografien von Amalie und Joseph Joachim nach. Er: bereits in jungen Jahren ein bedeutender Solist, der, von Felix Mendelssohn Bartholdy gefördert, nach Berlin zog und als Violinist und Gründungsrektor der Akademischen Hochschule für Musik Karriere machte. Sie: Sängerin seit ihrem 14. Lebensjahr, die nach ihrer Hochzeit mit Joseph Joachim auf eine Bühnenlaufbahn verzichtete und gemeinsam mit ihrem Mann auftrat: Amalie und Joseph Joachim [
] verkörperten die Verbindung zweier unterschiedlicher Bereiche: die deutschsprachige konzertante Vokalmusik und die deutsche Kammermusik. Neben die Geige trat nun die Stimme.
Dieser Stimme spürt Beatrix Borchard nach. Inwieweit wurde Amalie Joachim als eigenständige Künstlerin wahrgenommen? Welches Ansehen erlangte sie nach ihrer Scheidung, als sie versuchte, eine eigenständige Karriere aufzubauen? Aus den spärlichen Quellen versucht die Autorin, die musikwissenschaftliche Bedeutung der Amalie Joachim zu ergründen, die zu ihrer Zeit vornehmlich als Begleiterin ihres Mannes wahrgenommen wurde ein Schicksal, das sie mit Clara Schumann teilte: Trat Amalie Joachim mit ihrem Mann auf, bejubelte man sie gemeinsam als Verkörperung einer Idee: Stimme und Geige, Frau und Mann. Gab sie hingegen mit Clara Schumann ein Konzert, waren beide nur die jeweils unbedeutenderen ,Hälften unterschiedlicher Konstellationen. Weit üppiger ist das Material über Joseph Joachim. Sein Leben ist ausführlich dokumentiert seine Auseinandersetzung mit seinem Judentum, seine komplizierten Freundschaften mit
Gisela von Arnim oder Johannes Brahms, seine kompositorischen Versuche. Im Gegensatz zu seiner Frau galt Joseph Joachim stets als autonomer Künstler, dessen Ruhm bis ins hohe Alter andauerte.
Das Buch verstehe sich auch als Anstiftung zu einem methodologischen Streit, schreibt Beatrix Borchard im Nachwort: Allgemeine Geschichte und Geschlechtergeschichte sind zumindest für das 19. Jahrhundert nicht zu trennen. Es ist das Verdienst der Autorin, dass sie sich mit den
gesellschaftlichen Realitäten der Vergangenheit auseinander setzt und die Musikgeschichte um eine weitere Facette bereichert: Joseph und Amalie Joachim stehen stellvertretend für zahlreiche ähnliche Paarkonstellationen der damaligen Epoche und für viele andere, weitgehend vergessene Interpretinnen und Musikerinnen, die noch ihrer Entdeckung harren.
Irene Binal