Geiger, Friedrich / Eckhard John (Hg.)

Musik zwischen Emigration und Stalinismus

Russische Komponisten in den 1930er und 1940er Jahren

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Metzler, Stuttgart 2004
erschienen in: das Orchester 04/2005 , Seite 82

Unter den Überbegriff „Spaltung der Musikkultur“ stellt Mitherausgeber Eckhard John seinen Basisbeitrag. Dies könnte auch der Titel des Buchs sein, das aus einer Tagung am Dresdner Zentrum für Neue Musik des Jahres 2001 hervorgegangen ist. Die in ihrer Qualität und den methodischen Ansätzen etwas heterogen wirkenden Beiträge bemühen sich in ihrer Gesamtheit, manche Vorurteile über die Situation von Komponisten in der Sowjetunion, die Einflüsse und Repressionen, unter denen sie leben und arbeiten mussten, zu revidieren oder zu konkretisieren. Zudem ist die recht unterschiedliche Rezeption von Komponisten, die aus der Sowjetunion emigrierten, von Interesse. John weißt zu Recht darauf hin, dass bislang die „russische Musikgeschichte im 20. Jahrhundert üblicherweise betrachtet wird als Musikgeschichte der Sowjetunion“, die Emigration meist nur im Sinne von Verlustlisten rezipiert wird.
Eines machen die Beiträge auf jeden Fall deutlich: Infolge einer bis in die Gegenwart hinein problematischen Dokumentationslage – vieles, das Aufschluss über Zensur oder Pressionsmaßnahmen gegenüber den Komponisten der Stalinzeit geben könnte, war bis vor kurzem noch unter Verschluss oder ist weiterhin nicht zugänglich – ist dieses Forschungsgebiet noch von vielen Vorurteilen geprägt, die sich oft auf eine zu schmale Materialbasis stützen. Zudem ist den Autoren zuzustimmen, wenn sie für die Bewertung vieler Quellen größere Vorsicht einfordern, als dies bisher oft geschah. Die ideologische Gebundenheit von Darstellungen des Musiklebens der Sowjetunion beschränkt sich nicht nur auf staatliche Stellen oder der kommunistischen Partei und deren Organisationen Nahestehende; ebenso müssen die Darstellungen von Exil-Musikern über die Zustände in der Sowjetunion als ein Reflex des kalten Krieges gesehen werden.
Andererseits zeigt Eckhard John am Beispiel der RAPM (Russische Assoziation proletarischer Musiker), wie häufig mit nicht haltbaren Behauptungen operiert wird. Die oft zu lesende Meinung, die RAPM-Musiker hätten zwischen 1929 bis 1932 die totale Kontrolle über das sowjetische Musikleben gehabt, wird von ihm anhand genauen Quellenstudiums zumindest relativiert: „Die Bedeutung der RAPM scheint somit weniger in ihrer vermeintlichen Musikdiktatur um 1930 zu liegen, als in ihrer damaligen Funktion als Exerzierfeld, auf dem junge, ideologisch ambitionierte Musiker auflaufen und sich austesten konnten und hierbei bedrückende Konstitutionen ausprägten, die später die tatsächliche repressive Musikpolitik (etwa gegen die moderne Musik) mitbestimmten: infolge des Aufstiegs ehemaliger RAPMler zu Zeiten des Hochstalinismus in zentrale Institutionen des sowjetischen Musiklebens.“
Dieser auf Differenzierung angelegte Blick durchzieht auch die meisten der weiteren Beiträge. Karl Schlögel gibt interessante Hinweise auf die Problematik der Emigration, bei der die Musiker zwischen alle Stühle gerieten. Schon Ende der 20er Jahre gab es keine Illusion mehr bezüglich einer Überwindung des bolschewistischen Systems, aber auch kaum eigene Visionen, die diesem hätten gegenübergestellt werden können. Zu Recht merkt Schlögel an, dass materialintensive Studien über den Austausch zwischen Emigranten und dem Musikleben in der Sowjetunion noch nicht vorliegen.
Friedrich Geiger zeigt zudem auf, dass dies selbst für ein nach allgemeiner Meinung gut untersuchtes Gebiet wie dem Komponieren in der Stalinzeit gelten könne und man sich zu sehr auf die Komponisten Schostakowitsch oder Prokofjew versteift habe. Wie unterschiedlich die Repressionen des stalinistischen Systems gegenüber Komponisten sein konnten, legt Wolfgang Mende an den Beispielen Alksandr Mosolovs und Nikolaj Roslavec’ dar. Hier wird konkret die Wirkungsweise solcher Maßnahmen untersucht und zumindest angedeutet, was dies über das persönliche Schicksal hinaus auch auf das Komponieren für Folgen haben konnte.
Wie sich die Rezeption der Musik emigrierter Musiker im Sowjetreich von den 20er Jahren zu den 30er Jahren hin änderte, welches Maß an Durchlässigkeit vorhanden war respektive gekappt wurde, dies untersuchen Svetlana Savenko, aber auch Christoph Flamm am Beispiel Nikolaj Metners. Eine höchst aufschlussreiche Werkanalyse zu Prokofjews Kantate zum zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution (aus dem Jahr 1935/37) zeigt zudem, wie ein Komponist mit einem für den außen stehenden Betrachter doch sehr regimekonformen Sujet infolge der politischen Verwerfungen einerseits, des kompositorischen Ansatzes andererseits anecken konnte und zum Opfer von Zensur wurde.
Walter Schneckenburger

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