Prokofjew, Sergej
Alexander Nevsky
Filmmusik
Die Superlative überschlagen sich. Ein Komponist vom Rang Prokofjews schreibt die Filmmusik für den legendären Regisseur Sergej M. Eisenstein. Die erstmalige Zusammenarbeit im Jahr 1938 zeitigt einen Meilenstein der Film- und Musikgeschichte, das Epos Alexander Nevsky. Die aus der Filmmusik entstandene Kantate op. 78 von 1939 wird zum stilistischen Wendepunkt im Schaffen Prokofjews, ein erster Gipfel epischer Gestaltung russischer Geschichte in der zeitgenössischen Musik (Boris Assafjew).
Entgegen der mittelalterlichen Handlung von Alexander Nevsky ließ sich Prokofjew von der Verbindung neoklassischer und fol-kloristischer Stile leiten, experimentierte speziell für die Filmmusik mit der Aufnahmetechnik, mit umgekehrter Instrumentation und gezielten Übersteuerungen.
Die enorm aufwändige Rekonstruktion der vollständigen Filmmusik ist nun gelungen. Zwischen Manuskript der Originalkomposition und einer akustisch verblichenen Tonspur des Films sowie der Kantate konnte die authentische Gestalt erschlossen werden, nicht viel anders als bei der Freilegung eines Freskos. Die Abweichungen der Filmkomposition zur Kantate sind dabei erheblich und tragen zur letztgültigen Interpretation der Nevsky-Thematik Entscheidendes bei. Während die Kantate etwa 35 Minuten dauert, weist die Filmmusik mit 27 Nummern eine Gesamtdauer von 55 Minuten auf, ist zudem anders instrumentiert und verfügt über ein abweichendes Finale. Es bedurfte zahlloser Institutionen und Sponsoren, um dieses Großprojekt zu realisieren.
Das Ergebnis ist großartig. Dirigent Frank Strobel, der Ernst-Senff-Chor und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin entsprechen der präzisen und zugleich ausdrucksstarken Musik des Komponisten und bringen instrumentatorische Feinheiten zur Geltung. Eine Einspielung im DSD-Format (Direct Stream Digital) sorgt für eine differenzierte Wiedergabe. Eine Aufnahme, die in jeder Hinsicht dem Werk, das künstlerisch und inhaltlich ergreifend und historisch bedeutend ist, gerecht wird. Kleinere Mängel wie das Fehlen der russischen Originaltexte im sonst sehr solide aufbereiteten Booklet müssen dabei als Sparen am falschen Ort verzeichnet werden.
Insgesamt lässt sich Prokofjews Soundtrack zu Alexander Nevsky als eine Art montierte Orchestersuite, als musikalisches Drehbuch hören. Die stets deutlichen musikalischen Zeichnungen lassen keinen Zweifel, wo man sich befindet: ob in den schwebenden Streicherklängen der endlosen Weite Russlands, im mittelalterlichen Glockenklang der Stadt Nowgorod, im missklingend bedrohlichen Lager der teutonischen Kreuzritter oder im rhythmischen Getümmel des melodischen Schlachtfelds. So präzise und überzeugend die Charakterisierungen, so originell und überraschend sind zugleich die Klangfarben und Bewegungsgesten. Das Totenfeld, als einziges Sologesangsstück Symbol tiefer Trauer, ist wunderschön, aber auch etwas angestrengt pathetisch gesungen von Marina Domaschenko.
Steffen A. Schmidt


