Wagner, Richard
Die Walküre
Unter zahlreichen Inszenierungen von Wagners Musikdramen tat sich die Walküre-Version auf der Bühne der Stuttgarter Oper hervor. Das ganze Konzept wird von der Regie Christof Nels geprägt, den die Kritiker als Psychoanalytiker einschätzen. Präziser wäre es, in ihm einen analytischen Psychologen zu sehen: Seine bemerkenswerte Walküre-Interpretation greift nicht nur verschiedene psychologische Komplexe, Triebe, Ängste und seelische Abgründe auf, die die tiefe innerliche Zerrissenheit der Haupthelden verdeutlichen, sondern die ewigen Inhalte, Archetypen, das Allgemein-Menschliche, womit sich Carl-Gustav Jung beschäftigte. Der Regisseur verzichtet auf traditionelle, mit Klischees belastete äußerliche Effekte; entsprechend gibt es keine Felsen, Flammen, Schlachten, Walkürenritte usw. in der Bühnengestaltung Karl Kneidls. Ebenfalls werden die luxuriösen klangmalerischen Episoden keineswegs zum Selbstzweck in der musikalischen Interpretation des Stuttgarter Staatorchesters unter Leitung von Lothar Zagrosek: Sie wirken als notwendige Bestandteile der psychologisch motivierten Entwicklung des Dramas.
Vor allem all das, was an monumentale, pompöse Grand Opéra erinnern möge, fehlt in der szenisch-visuellen Gestaltung: Das Werk Wagners wirkt wie dynamisches Kammer-Musikdrama. Programmatisch in dieser Hinsicht ist der Feuerzauber: Asketisch, aber ergreifend rührend sind die schlichten Kerzen auf dem kleinen Tisch, auf dem die verzauberte Brünnhilde (Renate Behle) einschläft, um ein wenig später geblendet im kalten Scheinwerferlicht, das Wotan auf sie richtet, zu erstarren. Sehr konsequent ist die Liebesszene zwischen Sieglinde und Siegmund im ersten Aufzug verwirklicht: Reine tänzerische Plastizität in großartigen Pantomimen, helles, mildes Mondlicht, das die Szene bestrahlt alle Einzelheiten bilden eine tiefe stilistische Einheit und vermitteln ewige Sehnsüchte, Wonne, Lust sowie das Streben der Helden, ihr Alleinsein zu überwinden und in glühender Leidenschaft bis in den Tod vereint zu bleiben.
Der größte Star der ganzen Vorstellung, Angela Denoke als Sieglinde, überzeugend unterstützt von Robert Gambill als feurigem Siegmund, bestätigt das Verständnis der Walküre als das pathetischste, tragischste Werk Wagners, wie es Cosima Wagner einst formulierte. Tänzerische Plastik beherrscht auch den Todeskampf zwischen Hunding (Attila Jun) und Siegmund, verdoppelt von der Marionettenpantomime. Die lakonische Gestaltung lässt die Ausdruckskraft der Einzelfarben zur Geltung kommen: symbolisch tief und visuell schön erscheinen Brünnhildes schwarze Flügel mit dem Farbspiel von Grau, Blau und Lila: ein Kennzeichen der Todesbotin. Die szenische Idee des zweiten Aufzugs, wo Wotan (Jan-Hendrik Rootering), umgeben von Gips-Statuetten, als deren Herrscher und Hüter auftritt, beruht auf dem entfremdeten, surrealistischen Effekt, der die tiefste Gespaltenheit des verzweifelten Gottes vermittelt: eine Machtfigur, als Machtbesessener ist er allmächtig und ohnmächtig, ein Täter und Opfer zugleich. Leicht und witzig dagegen wirkt die Inszenierung des berühmten Walkürenritts: Gar nicht kriegerisch, sondern lustig-spielerisch treten die acht Mädchen in modernen Klamotten wie Models auf dem Laufsteg auf, auf dem gefallene Helden-Puppen ins Walhalla befördert werden.
Die Erfindungskraft des Regisseurs lässt Wagners Mythos in neuen Bildern und Facetten erscheinen; man bekommt jedoch den Eindruck, dass die konkreten Ideen für mehrere Inszenierungen reichen würden. Es scheint manchmal so, dass es sich eher um eine Revue mit selbstgenügsamen Einzelnummern handle als um ein einheitliches Konzept. So ist z. B. die verwendete technische Ausrüstung in der dritten Szene des dritten Aufzugs gewiss geistreich, jedoch nicht ganz innerlich verbunden mit anderen Episoden: Wotan als ein Überwachungsmann, der in seiner Kammer einen Monitor benutzt, um das Geschehen zu kontrollieren bzw. Brünnhilde in ihrem Raum zu überwachen, verdeutlicht zwar den psychologischen Komplex Macht-Ohnmacht sowie die Grundidee einer allumfassenden Isoliertheit, prinzipieller Unfähigkeit zu kommunizieren, erscheint jedoch nicht als absolut notwendig für die konkrete szenische Version. Trotzdem ist die Stuttgarter Inszenierung ein Ereignis, das zum neuen Verständnis Wagners verhilft und allen Wagner-Fans große Freude bereiten wird.
Marina Lobanova