Ulrike Schwanse
Singen ist unverzichtbar
Essener Thesen zum Chorsingen im 21. Jahrhundert
Einen Höhepunkt der Chormusik stellte das vom 5. bis 8. September 2002 in Essen begangene Jubiläum des 50-jährigen Bestehens der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände (ADC), die in 60000 Chören fast zwei Millionen Sängerinnen und Sänger organisiert, dar. Neben zahlreichen hochkarätigen Konzerten fand ein chorwissenschaftliches Symposium an der Folkwang Hochschule in Essen-Werden statt, dessen Ergebnisse auch für die Rundfunkchöre von Bedeutung sein dürften. In Klausurtagung entwickelte eine interdisziplinär zusammengesetzte Kommission namhafter Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum unter Leitung von Friedhelm Brusniak die Essener Thesen zum Chorsingen im 21. Jahrhundert. Diese wurden dem Bundespräsidenten Joannes Rau in der Abschlussveranstaltung im Aalto-Theater feierlich überreicht und sollen nun den zukünftigen Weg der Chöre ebnen. Die Veröffentlichung eines ausführlichen Kongressberichts ist geplant. Hier die Thesen:
1. Singen stellt ein Humanum dar, eine unverzichtbare, elementare und emotionale Lebensäußerung des Menschen. Chor bezeichnet nach heutigem Sprachgebrauch eine Gemeinschaft von Singenden; in ihr sind die Einzelnen gleichermaßen Interpreten und Rezipienten von Chorwerken. Chorsingen vereint Stimmen und macht Stimmung und Abstimmung auch sozial erfahrbar. Dabei präsentieren sich chorische Gruppierungen vom Ensemble bis zum großen Chor in beeindruckender Vielfalt.
2. Musik bereichert das Dasein ästhetisch. Sie hat konstruktive, Gesellschaft und Kultur teils überhöhende, teils neu in Bewegung setzende Kraft. Chorsingen trägt in besonderer Weise zu Gemeinschaftsbildung, sozialer Integration und Persönlichkeitsentfaltung bei. Es schult das Hin-Hören und das Zu-Hören, die Selbst- und die Fremdwahrnehmung. Darüber hinaus besitzen Stimmbildung und Atemerziehung positive Auswirkungen auf Gesundheit und sprachliche Kommunikation.
3. Singerfahrung in Kindheit und Jugend prägen durch lustvollen, kreativen Umgang mit der Stimme fürs Leben. Sie bilden die entscheidende Basis für ein Mitwirken im Chor. Bei der Erziehung zum Singen können elektronische Medien nicht die persönliche Vermittlung ersetzen.
4. Die Liebe zur Musik und zum Singen wird wie das Sprach- und Denkvermögen bereits im Kindes- und Vorschulalter entfaltet. In dem Maße, in dem Primärerfahrungen für das Singen in der Familie seltener vermittelt werden, erhält die Institution des Kindergartens wachsende Bedeutung. Singen muss hier zum Lebensvollzug gehören und Bestandteil des Kindergartenalltags sein. Die unerlässliche Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Erweiterung der musikpraktischen Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern.
5. Ebenso wichtig ist die Sicherstellung des Musikunterrichts an allgemein bildenden Schulen mit qualifiziert ausgebildeten Musiklehrerinnen und Musiklehrern. Entsprechend dem in einigen Bundesländern neu eingerichteten instrumentalen Klassenmusizieren sollte zusätzlich zum obligatorischen Musikunterricht Singen in Chorklassen angeboten werden.
6. Chormusik steht in historischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen. Deren Kenntnis ist für die Erarbeitung, Aufführung und Vermittlung von Chorwerken unabdingbar. Dabei muss die Interpretation sprachgebundener Chorwerke die enge Verflechtung von Text und Musik berücksichtigen.
7. Die Vielfalt traditioneller, popularmusikalischer und experimenteller stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten ist in der musikalischen Ausbildung und Praxis stärker zu beachten; das gilt ebenso für die zeitgenössische Musik und das improvisatorisch eigenschöpferische Singen.
8. Zukünftige Chorarbeit verlangt die Entwicklung neuer Formen der musikalischen Darbietung sowie der öffentlichen Präsentation, des Marketings und des kompetenten Managements unter Einbindung möglichst vieler Chormitglieder. Dies umfasst auch den gezielten Einsatz von Medien und moderner Technologie sowie die Zusammenarbeit mit Medieninstitutionen. Die Bedeutung der elektronischen Medien wird im 21. Jahrhundert weiter zunehmen. Daher ist ein verantwortungsbewusster Umgang mit ihnen erforderlich. Die Verbindung von Chorsingen und Medien birgt sowohl Chancen als auch Gefahren.
9. Chorvereinigungen sind durch die Pflege eines Repertoires von Meisterwerken des musikalischen Erbes und durch dessen zeitgenössische Erweiterung unverzichtbare Kulturträger. Daher werden Bund, Länder und Gemeinden zu einer der Bedeutung dieser Aufgaben entsprechenden Förderung der Chöre aufgerufen. Dieser Appell richtet sich auch an alle gesellschaftlichen Gruppierungen.
10. Die Bewältigung aller genannten Aufgaben erfordert die Fortsetzung und den Ausbau von Kooperationen der Chorvereinigungen und Chorverbände untereinander sowie die Zusammenarbeit mit den Institutionen praktischer und wissenschaftlicher Musikausbildung.
Der Kommission gehörten an: Generalsekretär a. D. Sigurd Agricola (Freizeitwissenschaft, Essen), Prof. Dr. Klaus-Ernst Behne (Musikpsychologie, Hannover), KMD Prof. Dr. Dr. h.c. Christfried Brödel (Chorleitung, Dresden), Prof. Dr. Peter Brünger (Musikpädagogik, Eichstätt), Prof. Dr. Friedhelm Brusniak (Musikpädagogik, Würzburg), Prof. Dr. Dietmar Klenke (Neuere Geschichte, Paderborn), Prof. Dr. Harmut Krones (Musikwissenschaft, Wien), Prof. Dr. Wolfgang Lipp (Soziologie, Würzburg), Prof. Dr. Christoph Richter (Musikpädagogik, Berlin), Prof. Dr. Anabella Weismann (Empirische Sozialforschung, Oldenburg), Prof. Dr. h.c. Heinz Werner Zimmermann (Komposition und Musiktheorie, Oberursel/Ts.)

