Werke von Iannis Xenakis, Toshi Ichiyanagi und Yoichi Sugiyama
Orchestra Works
Mayumi Kanagawa (Violine), Hidejiro Honjoh (Shamisen), Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra, NHK Symphony Orchestra, New Japan Philharmonic Orchestra, Ltg. Yoichi Sugiyama
Zeitgenössische, gar als Avantgarde bezeichnete Musik ist nicht unbedingt abstrakt. Sinnliche Qualitäten etwa hat Jonchaies (1977) für 109 Instrumente von Iannis Xenakis, wenn ein rasantes Glissando vom Bassregister der Streicher mit dichtem Klanggewebe zum Diskant wird. Dabei ordnet es sich wellenförmig, kommentiert von dramatischen Paukenkicks und progressiv sich in polyrhythmischen Variationen durch alle Orchestersektionen entwickelnd. Bis nach einer flimmernden Streicherpassage einzig die Piccoloflöte mit Brass-Nachhall dem Binsendickicht (so eine mögliche Titel-Übersetzung) entkommt. Aus einem Massenphänomen, wie Iannis Xenakis diese (mathematisch basierten) Strukturen nannte, oder anders gesagt: aus einer Schwarmintelligenz löst sich gewissermaßen ein tonaler Kern oder Solitär, sodass sich bestimmte Assoziationen wie die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum anbieten.
Ein vergleichbares Sujet verwendet der in Italien lebende, japanische Komponist Yoichi Sugiyama für sein Autoritratto (Selbstporträt), eine globale Klangchronik der Kriege und sozialen Konflikte der letzten 50 Jahre, aus der Perspektive pandemischer Isolation (2020) betrachtet. Das zu Beginn ohrschmeichelnde Fanfaren-Thema aus der Batalla Imperial des spanischen Barockmeisters Juan Cabanilles zerfasert sich schnell zu dissonanten Motiven, begleitet von dunklen Pauken, im Hintergrund Hymnen-Zitate aus allen Kontinenten. Sie werden bedrängt, in ihren Substanzen mehrschichtig durchgeknetet, bis im Finale ein Trompeten-Signal das martialische Schlachten-Echo beendet – nicht als verzweifelte Empfindung nahender Apokalypse, sondern als trotzigen Trost. Der Einzelne hat also eine Perspektive. Hingegen strebt Toshi Ichiyanagi in seinem im Alter von 89 Jahren vollendeten Werk ein Ideal an: die partielle Konvergenz asiatischer und europäischer Musikkulturen. Sein Doppelkonzert für Violine, Shamisen und Orchester (2021) ist ein zunächst schüchterner, später selbstbewusster Dialog der Soloinstrumente. Während Mayumi Kanagawa das Geigenmotiv beim Intro vorstellt, zupft Hidejiro Honjoh an der Shamisen (Langhalslaute) nicht temperierte Klänge. Das Ensemble ist bei dieser fast statischen Annäherung lediglich spärliche Kulisse. Erst im zweiten Satz bringt ein starkes Ostinato der tiefen Streicher die Soloparts in eine reell-filigrane Konversation, sodass sie sich gemeinsam mit dem Orchester in grandioser Gestik aufschwingen und zum ungleichen Paar werden.
Als Dirigent, auch seiner selbst, hat Yoichi Sugiyama mit drei exzellenten Orchestern aus Japan gezeigt, dass aktuelle Orchestermusik Aufmerksamkeit heischende Physiognomien und Seelenresonanz haben kann.
Hans-Dieter Grünefeld


