Gustav Mahler

Complete Symphonies. The Chief Conductors Edition

Royal Concertgebouw Orchestra

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: RCO (15 CDs)
erschienen in: das Orchester 11/2025 , Seite 75

Amsterdam und dort das Royal Concertgebouw Orchestra waren und sind maßstabsetzend für die Rezeption der Musik von Gustav Mahler. Etliche seiner kolossalen Werke dirigierte er in der niederländischen Kapitale selbst und vor allem sein Freund Willem Mengelberg, ja sogar Mahler-Festivals wurden regelmäßig bis 1920 veranstaltet. Letztgenanntes war insofern spektakulär und wegweisend, als fast alle seine Kompositionen mit dem Concertgebouw Orchestra aufgeführt und um Vorträge ergänzt wurden. Insofern hat dieses Ensemble gewisse Pioniermeriten und Privilegien bei der Mahler-Bewertung, die, nach einer Unterbrechung aus politisch-ideologischen Gründen, ab 1960 wieder neu begann und in einer Kanonisierung seiner Werke für Konzertprogramme der Gegenwart mündete. Die nun publizierte Chief Conductors Edition sämtlicher Mahler-Symphonien mit dem Royal Concertgebouw Orchestra präsentiert in signifikanter Auswahl historische Live-Aufnahmen mit sechs Dirigenten, die je eigene Vorstellungen davon hatten, was man Mahler-Signaturen nennen könnte.
Schwaches Hintergrundrauschen ist bei der Symphonie Nr. 4, der ältesten Aufnahme dieser CD-Box aus dem Jahr 1939, zu hören und der Dirigent Willem Mengelberg achtet besonders auf pikante Ironie in grotesken Timbres und Walzerschwüngen. Etwas dumpf ist die Tonqualität der Symphonie Nr. 3 (1957) mit Eduard van Beinum am Pult, sodass seine filigrane Stimmführung abgeschirmt wirkt. Alle anderen Aufnahmen sind zwischen 1997 und 2016 entstanden und deshalb wegen moderner Technik sehr gut durchhörbar. Einzeln in dieser Riege ist noch der Italiener Daniele Gatti, jetzt Berater des Mahler Chamber Orchestra, dessen Interpretation der Symphonie Nr. 2 majestätische Eleganz hat. Sein Landsmann Riccardo Chailly ist dreimal vertreten: Die Symphonie Nr. 1 hat mit ihm moderaten Elan, fulminant ist die Symphonie Nr. 5, und er öffnet der unvollendeten Symphonie Nr. 10 eine Tür zu einer fremden Welt. Denn Bernard Haitink, der niederländische Nestor der Mahler-Rezeption, hatte bereits die Transzendenz der Symphonie Nr. 9 als Raunen vor dem Tod kenntlich gemacht, während er die rhythmische Stringenz der Symphonie Nr. 6 scharf konturierte und die Dramaturgie im Zyklus „Lied von der Erde“ wunderbar gestaltete. Zuletzt ist noch der charismatische lettische Dirigent Mariss Jansons zu erwähnen, der sicher durch den kontrapunktischen Melodie-Dschungel der Symphonie Nr. 7 manövrierte und die Ehrfurcht vor der monumentalen Symphonie Nr. 8 linderte, ohne die Klangwucht zu mindern.
Mit dieser Edition hat das Royal Concertgebouw Orchestra nicht nur ein eindrucksvolles Dokument aus seiner Geschichte, sondern auch ein diskografisches Monument eigener und zugleich universal gültiger Mahler-Expertise vorgelegt.
Hans-Dieter Grünefeld

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support