Fazıl Say
Violinkonzert Nr. 2 „Spring Morning in the Days of Quarantine“/ Streichquartett/Sonate für Solo-Violine/Streichsextett Leopards
Friedemann Eichhorn (Violine), Gropius Quartett Konzerthausorchester Berlin, Ltg. Christoph Eschenbach
Offene Sinne für Stimuli von außen bewahrte der türkische Komponist und Pianist Fazıl Say, als er während der Corona-Pandemie auf Impressionen bei einsamen Ägäis-Strandspaziergängen mit dem Violinkonzert Spring Morning In The Days Of Quarantine reagierte: „Jeder Sonnenaufgang hatte eigenes Kolorit, eigene Textur und eigene Atmosphärik, die jeweils in die Komposition eingeflossen sind“, erinnert er sich. Seine Naturwahrnehmungen in Bezug zu Lockdown-Empfindungen sind in antagonistischen Klangkonstellationen hörbar. Widerstand gegen Schwäche zeigt sich etwa im Allegro-Violinpart, der sich mit hellem Timbre gegen bedrängend-pochenden 5/4-Rhythmus behauptet, sich in einer expressiven Kadenz durchsetzt und dann einen Korridor für ein Orchester-Diminuendo bereitet. Folgend gelingt dem Solisten Friedemann Eichhorn und dem flexiblen Konzerthausorchester unter der Leitung von Christoph Eschenbach mit dem eleganten Jazz-Swing ein Phoenix-Effekt, der sich nach glitzernd-perkussivem Violin-Pizzicato extravagant schwebend zu einem fast resignierenden Monolog verwandelt.
Assoziationen sind auch beim Streichsextett Leopards evident, das Fazıl Say aufgrund eigener Safari-Beobachtungen als musikalisches Engagement zum Erhalt geeigneter Habitate betrachtet. Dort tummeln sich bei diesen pittoresken Tableaux vitale Exklamationen in dichten Stimm-Parallelen, und die Agilität der Raubkatzen wird als treibender Rhythmus konturiert.
Ein Modus mit einem Kaleidoskop aus Klangfarben, den auch die Sonate für Solo-Violine (zum Tod des Bratschisten und Freundes Ruşen Güneş) kennzeichnet: Außer einem von Friedemann Eichhorn wunderbar empathisch gestalteten Porträt gibt ein 7/8-Tanz in einem spieltechnisch raffiniert ornamentierten Monolog Auskunft über orient-kulturelle Facetten der Herkunft des Widmungsträgers.
Ähnliche Klangregister zieht Fazıl Say beim Streichquartett Divorce (Scheidung), nur dass hier nervöse Glissandi und perkussive Passagen diagonal zur Melodik konfrontiert sind, die sich im Swingmodus entspannen. Danach beruhigen sich die Gefühle in melancholischer Atmosphäre und münden in heftigem Disput und ausweglosem Trauma. Ein persönliches und somit riskantes Werk, denn Erlebnis und Erfahrung werden durch die Musik objektiviert und somit vielleicht von der Realität entfremdet. Paradigmatisch wird hier in hervorragenden Interpretationen eine exzellente Auswahl der aktuellen Genre-Interessen für Streichinstrumente von Fazıl Say vorgestellt, die typisch für seinen synthetischen Stil aus klassischer Formgebung und mediterraner Koloristik sind.
Hans-Dieter Grünefeld


