Sergej Maingardt

Straight Run

Krisztián Palágyi (Akkordeon), Paulo Alvares (Klavier), Tal Botvinik (E-Gitarre), Bundesjugendorchester, Quasar Saxophone Quartet u. a., Ltg. Lothar Zagrosek

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Wergo
erschienen in: das Orchester 7-8/2023 , Seite 72

Der Anfang: zweieinhalb Minuten quälender Unsicherheit, mit orchestralen und elektronischen Mitteln meisterhaft in Szene gesetzt. Knarzen, Knarren, Quietschen, Grummeln, Flattern, Hauchen. Bilder stellen sich ein: Öffnet sich hier eine Tür? Wird dort etwas fester geschraubt? Atmet anderswo jemand? Konkret wird das alles nicht, sondern bleibt „mehr Empfindung als Malerei“, um es mit Beethoven zu sagen. Nach zweieinhalb Minuten bedrückender Spannung dann eine Entladung, die aber nichts an der beklemmenden Atmosphäre ändert. Das Orchester wird zum Tier und brüllt Klangballungen heraus, an denen Stanley Kubrick, Meister des Psychohorrors, seine Freude gehabt hätte.
Das Bundesjugendorchester unter Leitung von Lothar Zagrosek leistet hier Außerordentliches. In seinem erhellenden Booklet-Beitrag schreibt Egbert Hiller, die Musik biete „ein schrilles Panoptikum […] mit lyrischen Passagen als Sehnsuchts(t)räumen und verschlüsselten Botschaften, die aus Dunkelheit und Stille emporkommen“. Rush für großes Orchester, verstärktes Ensemble und Elektronik ist das bisher einzige Orchesterstück des 1981 geborenen Komponisten Sergej Maingardt; es entstand als Auftragswerk des Deutschen Musikrats für das Beethoven-Jubiläum 2020.
In Flower’s Silence in empty guns für Klavier, Live-Elektronik und Wii-Sensoren hat Maingardt „das Anwachsen politisch motivierter Gewalt […] musikalisch auf den Faktor Beschleunigung übertragen“. In Declare Independence verweist die für eine Rockband typische Besetzung laut Auskunft des Komponisten auf das „Rebellische“ zumindest der frühen Rockmusik. Was sich den Hörer:innen auch ohne Wissen um die intendierten Botschaften mitteilt, sind Wucht, Härte und Direktheit der Musik. Maingardt verwendet heftige Distortion-Klänge, E-Gitarren oder Klangmassen, die ihn in die Richtung des „Noise“-Stils rücken. Akustische Zitate aus Umwelt oder Pop-Musik schließen seine Musik mit der Gegenwart außerhalb der Avantgarde-Blase kurz.
Mit diesen drei Stücken bietet die vorliegende CD nur rund 36 Minuten Spielzeit – das Doppelte wäre drin gewesen. Entschädigt werden soll man wohl durch die sechs Videoarbeiten von Maingardt, die ebenfalls im Booklet kompetent besprochen werden. Auch in diesen bietet Maingardt das Gegenteil von L’art pour l’art. Drei Beispiele: It’s Britney, Bitch verwendet verzerrte Schnipsel aus Videos der tief gefallenen Pop-Diva, Heroin übersteigert Rockriffs ins Experimentelle und Rauschhafte, Construct – deconstruct für Saxofonquartett – dem der CD-Titel Straight Run entstammt – behandelt das Thema „Konstruktionen von Identität im Internet“. Nicht so kopfig, wie es klingt: Die Musik ist eine Mischung aus experimentellem Jazz und Klangforschung. Insgesamt eine gelungene Porträt-CD, die auch aufnahmetechnisch überzeugt.
Mathias Nofze

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