Werke von Bartók, Krenek, Toch und Weill

Der wilde Sound der 20er: 1923

Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Howard Arman, Cristian Măcelaru

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: BR Klassik
erschienen in: das Orchester 7-8/2023 , Seite 70

Mit seinem Themenschwerpunkt „Der wilde Sound der 20er“ blickt das Radioprogramm Bayern-Klassik exakt 100 Jahre zurück. Wild waren damals vor allem die Zeitumstände: Mit der Ruhrbesetzung und dem zivilen Widerstand, den Separatisten-Aufständen im Rheinland, dem Hitler-Ludendorff-Putsch in München, der Reichsexekution gegen die linken Regierungen in Sachsen, der Hyperinflation und der Einführung der Rentenmark brachte das Jahr 1923 Deutschland eine einmalige Anhäufung von Krisen. Zum Angebot des Senders gehört auch die vorliegende CD unter dem schlichten Titel 1923, die Kompositionen von Ernst Toch, Kurt Weill, Ernst Krenek und Béla Bartók vereint.
Konzeptionell wirkt die Kombination aus Tochs Tanz-Suite op. 30, Weills Frauentanz op. 10, Kreneks Drei gemischten Chören a cappella op. 22 und Bartóks Tanz-Suite op. 77 ein wenig zusammengewürfelt. Die ersten drei Werke sind Raritäten, und alle vier haben das Entstehungsjahr gemeinsam. Sie stammen, mit Ausnahme des älteren Bartók, von Angehörigen der jungen Komponistengeneration, die sich während der 1920er Jahre einen Namen machte. Alle vier Künstler flohen später vor den Nationalsozialisten bzw. dem ungarischen Horthy-Regime ins US-amerikanische Exil. Tobias Bleek, Professor für Musikwissenschaft in Essen, hat einen instruktiven Einführungstext geschrieben, der die sehr verschiedenen Stücke in einen Kontext bringt und Neugier weckt auf sein im Frühjahr erschienenes Buch Im Taumel der Zwanziger. Ein echtes Ärgernis ist das Fehlen der gesungenen Texte im Begleitheft. Ersatzweise findet man die Partitur von Weills Kantate Frauentanz in der Online-Bibliothek IMLSP; und zu Kreneks Chören kann man sich immerhin die zugrunde liegenden Gedichte von Matthias Claudius zusammensuchen.
„Wild“ von den vier Werken ist am ehesten noch Bartóks Tanzsuite (in einer Live-Aufnahme von 2017); den anderen drei Kompositionen (2021 im Studio produziert) ist eher eine reflektierte, manchmal ironische Distanz eigen. Am weitesten entfernt von den aufregenden Zeitereignissen ist Weill mit seiner ins Neuhochdeutsche übertragenen und in kristallklare Klänge gefassten Minnelyrik. Die interessanteste Entdeckung ist Tochs Tanz-Suite, die mit Satztiteln wie „Der rote Wirbeltanz“, „Der Tanz des Grauens“, „Der Tanz des Schweigens“ und „Der Tanz des Erwachens“ ihre ursprüngliche Zweckbestimmung für den Ausdruckstanz erkennen lässt. Tochs Partitur für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Kontrabass und Schlagzeug ist ausgesprochen originell. Kreneks Chorgesänge liegen im Stil zwischen Johannes Brahms und Hugo Distler – eine wenig bekannte Facette des vielseitigen Komponisten. Klangkultur, Präzision, Spannungsaufbau und Ausdrucksreichtum der Aufnahmen sind insgesamt beachtlich bis hervorragend.
Andreas Hauff

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