André Caplet
Le Miroir de Jésus
Chor des Bayerischen Rundfunks, Münchner Rundfunkorchester, Ltg. Howard Arman
Ein Frühvollendeter: Als Wunderkind im französischen Le Havre aufgewachsen, studiert André Caplet (1878–1925) am Pariser Conservatoire und erringt 1901 den karriererelevanten Rom-Preis der Pariser Académie des Beaux-Arts. Prägend für seinen Kompositionsstil wird seine Freundschaft mit Debussy, für den er Le Martyre de Saint Sébastian orchestriert und 1911 uraufführt. Der Erste Weltkrieg zerstört eine vielversprechende Dirigentenkarriere. Caplet kehrt so krank aus dem Krieg zurück, dass er sich auf seine Begabung als Komponist zurückzieht.
In seinen letzten Lebensjahren entsteht auch sein Hauptwerk, das großangelegte Chorwerk Le Miroir de Jésus. Es wird im Jahr 1923 uraufgeführt, was der Anlass für den Bayerischen Rundfunk ist, diese gerade aus ihrem Dornröschenschlummer erwachende Chorkantate in die Feierlichkeiten um das 100-jährige Bestehen des Rundfunks in Deutschland aufzunehmen.
Der scheidende verdienstvolle Chorleiter Howard Arman präsentiert mit seinem Miroir eine neue Lesart der Vertonung der 15 Sonette von Henri Ghéon. Die drei mal fünf auf moderne Art poetischen Gedichte, die sich an den Inhalten des Rosenkranzbetens orientieren, finden sich im zugehörigen Booklet ins Deutsche und Englische übersetzt neben einem sehr hilfreich ins Werk einführenden Text. Der Gedichtzyklus und auch Caplets Vertonung reflektieren eine tiefe religiöse Innerlichkeit, die vielen Intellektuellen als einzig lebbare Antwort auf die Gräuel des Ersten Weltkriegs erschien.
Arman holt das Chorwerk mit seiner großartigen Solopartie, die Anke Vondung mit natürlicher Dramatik aufzuladen weiß, mit seinen flirrenden, zwischen Kirche und Konzertsaal stehenden Frauenchören und einem impressionistisch-modernen Instrumentalpart aus Streichquintett und Harfe aus dem Salon, oder besser der Kapelle, auf die Bühne. Die merkwürdig meditativen Präludien vor den drei Hauptteilen werden damit bei Arman zu Ouvertüre und Intermezzi. Viele bisherige Aufnahmen wählten mädchenhafte Solistinnen und Mädchen- oder Kinderchöre und gaben der Harfe viel Platz, um Transzendenz hörbar zu machen. Bei Arman bleibt die Freude, der Schmerz, die Trauer der Maria auf andere Art erhalten – die zeitgleiche Beschäftigung des Chors mit Dvořáks Stabat Mater scheint mitzuschwingen. Das Zarte, Fragende, Frappierende, Unfertige, Süßlichschmerzhafte, Ergreifende erscheint in dieser Live-Aufnahme des Bayerischen Rundfunks von 2019 modernisiert, umgewandelt, ins weltliche Heute übersetzt. Anke Vondung schafft diesen Spagat mit viel Verve und Energie. Der Orchesterpart erscheint durch das akribisch gearbeitete Strahlen, das die BR-Musiker:innen hervorzuzaubern wissen, frappierend dicht am Text, sodass eine überzeugende Schlüssigkeit entsteht. So könnten Caplets Rosenkranz-Mysterien wieder in das Konzertrepertoire geholt werden.
Katharina Hofmann