Peter Iljitsch Tschaikowsky

Werke für Violine und Klavier

Urtext, hg. von Alexander Komarov, mit bezeichneter und unbezeichneter Streicherstimme

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Henle
erschienen in: das Orchester 7-8/2023 , Seite 66

Eine Neuausgabe der Violinwerke Tschaikowskys? Viel solistisches Repertoire hat er für das Instrument nicht gerade geschrieben, und was wir von ihm haben – Violinkonzert op. 35, Sérénade mélancolique op. 26, Valse-Scherzo op. 34, die drei Stücke Méditation, Scherzo und Mélodie der Sammlung Souvenir d’un lieu cher op. 42 – gehört zu den Evergreens des Violinrepertoires und liegt bereits in hochkarätigen anderen Editionen vor. Was kann eine Neuausgabe da noch an Überraschungen zutage fördern?
Ich muss zugeben, dass mich selten eine Neuedition vermeintlich bestens bekannten Repertoires derart überrascht hat. Der vorliegende Band enthält mit Ausnahme des Violinkonzerts alles, was Tschaikowsky für Sologeige geschrieben hat. Und hier wartet gleich die erste große Überraschung: Außer den oben genannten Stücken gibt es – mir bislang unbekannt – drei weitere kurze Kompositionen. Es handelt sich um Arrangements aus Tschaikowskys eigener Feder des Liedes Oh! Chante encore op. 16/4, des Trauermarsches aus dem 3. Streichquartett in es-Moll op. 30 und der Humoreske für Klavier op. 10/2. Das 3. Quartett, und hier besonders das Andante funèbre, gehört sicherlich zu Tschaikowskys eindrucksvollsten Kammermusikschöpfungen; die Humoreske kennt man gut – Strawinsky hat sich später an ihr für sein Ballett Der Kuss der Fee und für das zusammen mit S. Dushkin arrangierte Divertimento für Violine und Klavier, hier unter dem Titel Danses suisses (!), bedient.
Schauen wir uns die anderen Werke des Bandes an. Die Textdifferenzen zu den bekannten Editionen der drei Stücke op. 42 und der Sérénade mélancolique bewegen sich im Großen und Ganzen im oben skizzierten Rahmen. Bekannt ist, dass es sich bei der Méditation um den ursprünglichen langsamen Satz des Violinkonzerts handelt, den Tschaikowsky durch die Canzonetta ersetzte, weil er zwischen den recht monumentalen Ecksätzen nicht seinem Sinn für Proportionen entsprach. Das Valse-Scherzo dagegen ist hier schlichtweg eine andere Komposition als in den angestammten Ausgaben. Wie man dem äußerst informativen Vorwort entnehmen kann, handelt es sich bei der heutzutage in aller Regel gespielten Fassung um eine erst 1914 entstandene Bearbeitung des Geigers Wassili W. Besekirski, der das Stück von ursprünglich 569 auf 332 Takte zusammenkürzte, zudem den Solopart an etlichen Stellen virtuoser gestaltete und dem bis dahin keinesfalls sehr populären Walzer zu seiner heutigen Beliebtheit verhalf. Hier jetzt also das Original.
Der Band entspricht gewohntem Henle-Standard: Der Revisionsbericht ist exzellent; beigegeben sind wie immer zwei Violinstimmen, eine ohne jegliche Fremdbezeichnungen sowie eine weitere, für die Ingolf Turban die geigerische Einrichtung besorgt hat.
Fazit: Gehört in jede Violinbibliothek!
Herwig Zack

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