Matthias Veit
Der gespürte Ton
Eine umfassende Analyse der Wahrnehmungen beim Musizieren
Der Autor ist Sänger, Pianist und vor allem bekannt und geschätzt als Liedbegleiter. Die Tatsache, dass er diese drei Innen- und Außenperspektiven als praktizierender Musiker aus reicher Erfahrung kennt und sie als Lehrer erweitert und fruchtbar gemacht hat, lässt sogleich verstehen, weshalb der Titel seines umfangreichen Buchs so anspruchsvoll formuliert ist: Es geht eben nicht nur um die Technik im Umgang mit Händen und Stimme, nicht nur um das Hören und Herstellen von Tönen und Klängen, sondern um den gesamten daran beteiligten Wahrnehmungs- und Entäußerungsprozess. Und damit ist der Kern beschrieben: Es handelt sich um eine detaillierte musikalische Leibphilosophie im Dienste der Musikpraxis.
Bei den Stichworten Philosophie und Leiblichkeit kommt die Phänomenologie ins Spiel. Als Konzept im 19. Jahrhundert entworfen, zielt sie auf Philosophie als „strenge Wissenschaft“ ab, doch sie ist im Wesentlichen eine Besinnung auf Raum, Zeit und Lebenswelt und versucht sich immer an der direkten Beschreibung aller Erfahrung. Bis heute. Einer der vielen philosophischen Meilensteine in jener Bewegung, die man Phänomenologie nennt, war und ist die 1945 publizierte Arbeit von Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis klärt uns auf: Der Leib steht im Zentrum.
Matthias Veit hat vor allem die den Leib betreffenden Gedanken des zeitgenössischen Philosophen Hermann Schmitz adaptiert und als Matrix für seine eigenen Analysen verwendet. Dabei zitiert er ihn auf fast 600 Seiten so ausufernd, dass Schmitz’ Neo-Phänomenologie (so versteht Schmitz sie selbst) diese Analysen in oft sehr eigensinnig-vagen Begriffen wie eine Riesenkuppel überwölbt. Ob das Veits eigene Anstrengungen auf dem Weg zu einer „umfassenden Analyse der Wahrnehmungen beim Musizieren“ auch ins Riesenhafte gesteigert hat? Dies lässt sich nur von jedem Musizierenden selbst beantworten. Material bekommt er jedenfalls massenhaft.
Der Autor behandelt seine Themen im Rahmen fünf umfangreicher Teile. Er beginnt mit der „Beschaffenheit und Gesetzlichkeit des Leibraums“ in historischer Rekonstruktion. Teil II versucht den Klangimpuls in leiblicher Hinsicht zu analysieren. Teil III will Impuls und Lösung leibökonomisch auseinandernehmen und verstehen, in Teil IV geht es um Atmosphäre als leiblich erfahrbaren musikalischen Ausdruck, der affektiv ergreift. Und schließlich wird das eigenleibliche Spüren als „die Natur, die wir selber sind“ (Hartmut Böhme) betrachtet.
Soweit zur Charakteristik der „Riesenkuppel“. Unter ihrem Dach bietet Veit zahllose, konkrete und oft sehr schöne Beispiele für alle, die ein offenes Ohr mitbringen. Denn das lohnt sich!
Kirsten Lindenau