Alberto Fassone

Anton Bruckner und seine Zeit

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Laaber
erschienen in: das Orchester 09/2019 , Seite 56

Das populäre Bild von Anton Bruckner wird noch immer von Vorstellungen dominiert, die diesem Komponisten kaum gerecht werden. Stichworte: Antipode von Johannes Brahms, naiver katholischer Komponist, den die „Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben“ (Brahms über Bruckner). Der von Alberto Fassone verfasste Band Anton Bruckner und seine Zeit ist eine Überarbeitung des schon im Jahr 2005 erschienen Buchs Anton Bruckner. La personalità el’opera des gleichen Autors.
Der aktuelle Stand der Brucknerforschung wird umfangreich und grundlegend dargestellt. Der Anspruch liegt weniger in der Darstellung neuer Detailerkenntnisse als im Versuch einer vorurteilsfreien synthetischen Zusammenschau von künstlerischer Persönlichkeit und musikalischem Werk.
Überaus spannend das Kapitel „Zu einer Kontextualisierung der Persönlichkeit Anton Bruckners“, das wichtige Aspekte behandelt. Vor allem der Abschnitt „Bruckner und das Bildungsideal seiner Zeit” liefert eine längst überfällige Korrektur der Ansicht, dass Bruckner zwar musikalisch-theoretisch sehr gebildet war, dies jedoch nicht auf andere Wissensgebiete wie Literatur, Theologie und Philosophie zutreffe. Sinfonik, Kirchenmusik und kammermusikalische Werke werden ausführlich behandelt. Leider finden Klaviermusik, weltliche Kantaten und Lieder keine Beachtung. Der größte Teil des Buchs widmet sich der Sinfonik. An den Bruchlinien der verschiedenen Fassungen, die als gewichtige Reflexionen im kompositorischen Prozess gedeutet werden, kann man im positiven Sinne die verwirrende und faszinierende Komplexität von Bruckners kompositorischer Entwicklung erkennen. Was die Analysen besonders spannend macht, ist die Berücksichtigung des historischen Kontexts. Vor diesem Hintergrund werden die persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen rekonstruiert, um eine Vorstellung von jenen Verhältnissen zu gewinnen, in die Bruckner als Komponist, Organist, Dirigent und Lehrer eingebunden war. Das ist sicherlich kein gänzlich neuer Ansatz, aber gerade bei einem Komponisten wie Bruckner nicht unwichtig, besonders vor dem Hintergrund einer verfälschenden Sichtweise, die aus einem romantischen Ideal des „absoluten“ Künstlers resultiert.
Viele Vorurteile gegenüber seinem Œuvre werden entkräftet. Zahlreiche Notenbeispiele, Abbildungen und eine umfängliche Bibliografie erlauben einen fundierten Einblick in die weitverzweigte Forschungsliteratur. Ein Register erleichtert die Arbeit ungemein. Zum Überblick dient, wie bei dieser Reihe üblich, eine ausführliche Zeittafel, die es ermöglicht, während der Lektüre das gerade Gelesene schnell in den historischen Kontext einzuordnen.
Fassone liefert nicht nur einen gewichtigen Beitrag zur Bruckner-Exegese, sondern auch eine bedeutsame Ergänzung zum Bruckner-Handbuch, das bei Metzler/Bärenreiter erschienen ist.
Michael Pitz-Grewenig

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