Noeske, Nina

Liszts “Faust”

Ästhetik - Politik - Diskurs

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Köln 2017
erschienen in: das Orchester 05/2017 , Seite 61

Stichwort Diskurs: In seinem gedanklichen Ansatz bezieht sich dieses Buch auf den französischen Philosophen Michel Foucault, der insbesondere in seiner Schrift Die Ordnung des Diskurses (1970) Denkrichtungen angezeigt hat, in deren Konsequenz nichts Geringeres geschieht als die Infragestellung traditioneller Geistesgeschichte.
Im Mittelpunkt der Foucault’schen Diskursanalyse steht nicht das erkennende oder schaffende Subjekt. Vielmehr geht es um multikausale Sinnzusammenhänge, die Realitäten nicht allein reflektieren, sondern diese überhaupt erzeugen. Der Schaffende ist mithin kein autonomes Wesen, sondern vielmehr Knotenpunkt eines Netzes von historischen, sozialen, politischen, wie immer gearteten Bedingungen und Bezügen.
Ist das Subjekt somit tot? Mitnichten! Nur sollten, nach Foucault, menschliche Handlungen oder Artefakte nicht allein im Licht genuin freier Entscheidungen oder psychologischer Gesetzmäßigkeiten, sondern vor dem Hintergrund der Eingebundenheit des Individuums in bestimmte Diskurse betrachtet werden. Bezieht man dieses Denkmuster auf musikalisches Handeln und damit auf den Forschungsgegenstand der Musikwissenschaft, so folgt daraus, wie Autorin Nina Noeske fomuliert, der Blick auf die „Gesamtheit der zu einer Zeit an einem bestimmten Ort bzw. sozialen Feld gültigen gesellschaftlichen Praktiken und Normen, die für ein zu definierendes musikalisches Ereignis prägend sind“.
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht gekürzte Version einer 2013 an der Musikhochschule Hannover eingereichten Habilitationsschrift. Noeske, mittlerweile als Professorin in Hamburg wirkend, verweist ihrerseits auf drei Vorgängerschriften zum Thema „Faust“-Sinfonie – die Analysen von Dorothea Redepenning, Constantin Floros und Carl Dahlhaus – und zugleich auf Martin Gecks 2001 erschienenes Buch Zwischen Romantik und Restauration. Hier findet die Autorin diskursanalytische Betrachtungsweisen, die sie bei Dahlhaus schmerzlich vermisst: Dessen apriorische Entscheidung, Musik vermeintlich nur entweder aus dem Werk heraus (hermeneutisch) oder als Folie sozialgeschichtlicher Vorgänge betrachten zu können, hält sie für fragwürdig.
In vier Großkapiteln beschäftigt sich Nina Noeske mit den drei Protagonisten – Faust, Gretchen, Mephisto – sowie mit dem abschließenden „Chorus Mysticus“ und lässt hier eine Fülle musik-, geistes-, sozialgeschichtlicher und nicht zuletzt politischer Querverweise einfließen, die die Lektüre des (nicht eben schmalen) Buches höchst anregend machen. Thematisiert werden etwa Konzepte von Ironie, Humor, Dämonie, Virtuosität, Materialismus und nicht zuletzt die Emanzipation des „Ewig Weiblichen“.
Die „Musik selbst“, hierauf weist die Autorin eingangs hin, sollte dem Leser bekannt sein. Wer eine musikalische Analyse erwartet, mag vielleicht enttäuscht sein. Wer jedoch „das ,Denken über‘ und die Bewertung von Musik als Teil dieser selbst begreift“ (Noeske), wird Liszts „Faust“ mit Gewinn lesen.
Gerhard Anders

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