Hindemith, Paul

Tuttifäntchen

Rubrik: CDs
Verlag/Label: cpo 777 802-2
erschienen in: das Orchester 02/2014 , Seite 79

Wer sich noch an die großartige Hindemith-Reihe erinnert, die das Label cpo in den 1990er Jahren auf CD vorlegte (und die heute in wohlfeilen Boxen erhältlich ist), dem wird das nur wenige Wochen vor dem Fest erschienene Weihnachtsmärchen Tuttifäntchen als ein ebenso überraschendes wie willkommenes Supplement erscheinen. Tatsächlich wird die Existenz dieser 1922 entstandenen Gelegenheitspartitur wohl nur jenen überhaupt dem Namen nach bekannt sein, die sich einmal mit der Biografie, den Vorlieben und dem gar nicht so einheitlichen Werkbestand des noch jungen Paul Hindemith auseinandergesetzt haben. Denn hier stehen muntere Klavierstücke neben ambitionierten Streichersonaten, nicht ganz ernst gemeinte (aber hochgradig inspirierte) Parodien und eine Filmmusik neben mit der Tradition aufräumenden Streichquartetten und Kammermusiken. Dass Hindemith schon zu diesem Zeitpunkt (und nicht erst bei seiner späteren Begegnung mit der Jugendmusikbewegung) an die Komposition und die gelungene Vermittlung von situationsbezogenen Werken dachte, zeigt die in Wort und Ton erstaunlich (groß-)bürgerlich anmutende Geschichte um das Tuttifäntchen – der von Hedwig Michel (1892-1982) und Franziska Becker (1874-1942) geschaffenen Frankfurter Variante des Pinocchio: Die frisch geschnitzte Holzfigur ist ohne Herz, entreißt dieses der Tochter des Meisters und zieht durch die Welt, um am Ende dann doch wieder glücklich mit seiner Tanne zu verwachsen; natürlich wird die Tochter im letzten Augenblick gerettet.
Weihnachtlich ist vor allem das Ambiente der Geschichte, die eher volkstümlich als moralisierend daherkommt. Sie könnte dem eigentlichen Kern nach auch ein ganz neutrales Wintermärchen sein, denn nicht Christkind und Krippe, sondern Tanne, Schnee und die vom Weihnachtsmann kommenden Geschenke dienen als säkulare Requisiten. Allerdings lässt es sich Hindemith nicht nehmen, in den Vorspielen zu den drei Bildern wie auch in der Schlussnummer die eine oder andere Melodie zu zitierten (von Kommet, ihr Hirten bis Adeste fideles) oder – wohl eher zum Vergnügen der Erwachsenen – mit Wagner-Allusionen zu spielen (so bereits im Refrain des ersten Liedes). Und schon damals war der „Tanz der Holzpuppen“ ein Ohrwurm, sodass dieser in einer Bearbeitung für Klavier erschien; eine vom Verlag gewünschte Bearbeitung für Salonorchester fertigte Hindemith nicht an.
Ob das Weihnachtsmärchen aber auch heute noch bühnen- oder hörspieltauglich ist? Das Fragezeichen darf jedenfalls mit dieser für meinen Geschmack doch viel zu biederen Einspielung nicht kleiner werden. Musiziert wird zwar auf einem soliden Niveau, akustisch aber klingt das Orchester recht eng und unplastisch. Die im Studio aufgenommenen Stimmen sind zwar ungleich direkter, ihnen fehlt es aber an Ungezwungenheit. Man fühlt sich an Karl Holl erinnert, der bemerkte, dass „die Musik Paul Hindemiths […] dem ganzen Stück erst die Daseinsberechtigung verleiht“.
Michael Kube

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