Stravinsky, Igor
Der Feuervogel/Scherzo fantastique
Schon in den ersten Minuten dieser Aufnahme begreift man, warum der junge Strawinsky um 1910 eine Sensation war. Seine unbändige Lust an der Klangfarbe, auch der grellen, ging einher mit einer gründlichen Emanzipation der Bläsertimbres, der Perkussion und des Rhythmus. Kein Wunder, dass der Komponist nur wenige Jahre später eine große Nähe zum frühen Jazz verspürte und daraufhin eine Reihe von Kammermusikwerken schrieb, die vier (Geschichte vom Soldaten), fünf (Ragtime) oder gleich acht (Oktett) Bläsersolisten verlangen.
Ein ideales Spielfeld für seine Farbenlust schuf sich Igor Strawinsky (1882-1971) mit dem Ballett Der Feuervogel, einer Mixtur aus drei russischen Märchenstoffen. Der russische Tonfall und die impressionistische Zauberwelt, ein Widerstreit zwischen Diatonik und Chromatik, erlaubten Strawinsky hier ein reichhaltiges Experimentieren mit Einzel- und Mischklängen zwischen diabolischer Düsternis und bizarrem Expressionismus. Das Ballett von 1910, sein erstes originäres Auftragswerk für die Tanztruppe von Serge Diaghilew, bedeutete Strawinskys internationalen Durchbruch. Doch auch zuvor schon waren seine speziellen Talente aufgefallen, zum Beispiel in der Orchesterdichtung Scherzo fantastique von 1908. Die nervös-motorische Anlage brachte diesem einsätzigen Werk bei einer späteren choreografischen Umsetzung immerhin den Ehrennamen Bienenballett ein.
Den Feuervogel hört man meist in der kürzeren Form als Konzertsuite, von der Strawinsky insgesamt drei Fassungen vorgelegt hat (1911, 1919, 1945). In diesen Suiten wirken die enorme Farbigkeit und Figurenvielfalt oft etwas plakativ, knallig, effekthascherisch. In der originalen Ballettversion jedoch hatten sie Zeit zur Entfaltung und Behauptung ihrer frappierenden Neuartigkeit. Genau dies demonstriert der Skandinavien- und Russland-Spezialist Jukka-Pekka Saraste mit dem WDR Sinfonieorchester. Seine Einspielung zielt weniger auf Brillanz als auf Deutlichkeit. Strawinskys konzise Klänge und Rhythmen werden hier mit einer fast schon unheimlichen Geduld, Nüchternheit und Detailliertheit entwickelt und bestaunt. Der Hörer mag da zuweilen etwas Tempo, Virtuosität und Schwung vermissen, aber er wird dafür mit sinnlichen Entdeckungen reich belohnt. Nebenbei wird ohrenfällig, wo Strawinskys hochfliegende Originalität ihre Bodenhaftung besaß: bei Rimsky-Korsakow, Tschaikowsky, Debussy und Wagner und selbst noch bei Berlioz und Mendelssohn. Auch die Verbindung des Feuervogels mit dem Scherzo fantastique besitzt einigen Erkenntniswert. Wüsste man es nicht besser, könnte man das fulminante, von Esprit sprühende Scherzo sogar für eine Vorübung zum Ballett halten.
Hans-Jürgen Schaal


